Direkt zum Hauptbereich

Ein bisschen spät von Claire Keegan - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Ein bisschen spät 


von Claire Keegan 


Freitag, der 29. Juli in Dublin. Das Wetter ist wie vorhergesagt, die Stadt vor Cathals Bürofenster liegt in gleißendem Sonnenschein. Nach einem scheinbar ereignislosen Tag mit Budgetlisten und Bürokaffee nimmt Cathal den Bus nach Hause. Die Landschaft zieht an ihm vorüber, die waldigen Hügel, auf denen er noch nie gewesen ist, und er denkt an Sabine. Die ein bisschen schielt und die gut kochen kann, die auch im Winter barfuß am Strand spazieren geht, die die Hügel besteigt. Die zu viel Geld ausgibt, die zu dick ist und zu viel Raum einnimmt und zumindest über die Hälfte von allem bestimmen will. Oh Cathel, du alter Macho, was redest du für ein dummes Zeug, fragt sich die Leserin …


«‹Und an dem Abend, als du bei Lidl die Kirschen gekauft hast, hast du mir gesagt, sie hätten mehr als sechs Euro gekostet.›

‹Und?›

‹Weißt du, was Frauenfeindlichkeit im Kern ausmacht? Letzten Endes?›

‹Ach, dann bin ich jetzt ein Frauenfeind?›

‹Nicht geben zu wollen›, sagte sie. ‹Ob’s darum geht, uns das Wahlrecht zu verweigern, uns nicht beim Abwasch zu helfen – das Pferd wird immer vor denselben Wagen gesponnen.›

‹Gespannt›, sagte Cathel.

‹Was?›

‹Es heißt nicht gesponnen›, sagte er. ‹Es heißt gespannt.›

‹Siehst du?›, sagte sie. ‹Ist das schon wieder so ein Beispiel? Du hast genau gewusst, was ich meine – aber nicht einmal so viel kannst du mir geben.›» 


Cathel arbeitet bei einer Behörde in Dublin, wohnt in der Küstenstadt Arklow, fährt täglich die Strecke mit dem Bus. Er will die Französin Sabine heiraten – doch er ist eben kein Italiener, der die Vorzüge seiner Frau tagtäglich liebevoll vor sich hin trägt. Er ist Ire, ein verstaubter Macho; die Frau hat zu funktionieren nach seinem Gusto, er hält alles für selbstverständlich und er lässt kein gutes Haar an ihr. Die Frau, mit der er hätte sein Leben verbringen können, wäre er ein anderer Mann gewesen. Vielleicht hätte ein anderer Vater ihn auf positive Weise geprägt. Rollenverhalten, das ungeprüft übernommen wird, Sprache, die man übernimmt, männliches Verhaltensmuster. Cathel wollte, dass Sabine bei ihm einzieht. Aber schon nervt es ihn, weil sie «ihr ganzes Zeugs» mit anschleppt, wie er es nennt, Schuhe, Kleider, Töpfe … Reichlich spät – aber sie kratzt am Ende die Kurve! In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom großen Thema Misogynie. Auf nur 60 Seiten bringt sie die Essenz auf’s Papier, kein Wort ist überflüssig, jeder Satz von durchscheinender Klarheit. Sie legt die Mechanismen offen, die dog-cods, die sich gesellschaftlich etabliert haben. Meisterhaft!


Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist (2004) und Durch die blauen Felder (2008) (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2017), Das dritte Licht (2013/2022) und Kleine Dinge wie diese (2022) erschienen. »Das dritte Licht« wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland.



Claire Keegan 
Reichlich spät
Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser 
Originaltitel: So late in the day
Zeitgenössische Literatur, Misogynie, Irische Literatur
Leineneinband, 64 Seiten 
Steidl Verlag  2024 





Das dritte Licht von Claire Keegan

An einem heißen Sommertag Anfang der 1980er Jahre, gleich nach der Frühmesse, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten auf einer Farm im tiefsten Wexford ab. Denn seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. Er sagt den Kinsellas, sie sollen die Kleine also ruhig so lange dabehalten, wie sie wollen … Claire Keegan ist eine Meisterin der ungesagten Töne – das Bild steht für den Lesenden zwischen den Zeilen. Grandios erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens, das entdeckt, was Familie für ein Kind sein könnte – sein sollte. Die Verfilmung wurde kürzlich für einen für einen Oscar nominiert. Ein Roman, den man sich nicht entgehen lassen sollte!

Weiter zur Rezension:  Das dritte Licht von Claire Keegan


Kleine Dinge wie diese 

Irland, 1985, Kohlen- und Holzhändler Billy Furlong hat es geschafft. Er gehört zur Mittelschicht, ist glücklich verheiratet und er hat fünf wundervolle Töchter. Die Ältesten besuchen die katholische Schule des örtlichen Klosters. Vor Weihnachten hat Furlong viel zu tun, jeder möchte an den Feiertagen eine warme Stube haben. Das Kloster vor Ort ist ein guter Kunde, begleicht sofort die Rechnungen, darum fährt er sogar früh am Sonntagmorgen hinaus. Niemand ist zu sehen. Durch Zufall findet er in einem Kohleschuppen eine eingesperrte junge Frau: barfuß, spärlich gekleidet, durchfroren und verängstigt. Könnte an den Gerüchten etwas dran sein? Atmosphärisch dicht, das Konzentrat einer Geschichte. Diese Novelle ist eine literarische Kostbarkeit!

Weiter zur Rezension:  Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe