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Das dritte Licht von Claire Keegan - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Das dritte Licht 


von Claire Keegan


Der Anfang: 

An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen. Es ist ein heißer Tag, strahlend hell, mit Mustern aus Schatten und jähem grünlichem Licht entlang der Straße. Wir fahren durch das Dorf Shillelagh, wo mein Vater bei einer Partie Forty Five unser rotes Kurzhornrind verloren hat, dann am Viehmarkt von Carnew vorbei, wo der Mann, der die Färse gewonnen hat, sie kurze Zeit später wieder verkaufte. Mein Vater wirft seinen Hut auf den Beifahrersitz, kurbelt das Fenster herunter und raucht. Ich schüttele mir die Zöpfe aus dem Haar, strecke mich auf der Rückbank aus und schaue aus dem Heckfenster.


An einem heißen Sommertag Anfang der 1980er Jahre, gleich nach der Frühmesse, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten auf einer Farm im tiefsten Wexford ab. Denn seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. Er sagt den Kinsellas, sie sollen die Kleine also ruhig so lange dabehalten, wie sie wollen … 


Wir bleiben noch eine Weile stehen und blicken aufs Wasser hinaus.

‹Sie mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.›

Ich blicke übers Meer. Dort blinken nach wie vor die beiden Lichter, doch dazwischen leuchtet jetzt auch noch ein anderes Licht.

‹Kannst du’s sehen?› fragt er.

‹Ja›, sage ich. ‹Da drüben.›

Da legt er die Arme um mich und zieht mich zu sich, als wäre ich sein eigenes Kind.


Cáit findet sich schnell zurecht auf dem Hof, geht ihrer Tante zur Hand. Das Haus ist hell und sauber, und Cáit lernt eine Badewanne kennen, wird neu eingekleidet – zunächst in Jungenkleidung. Die Tante zeigt ihr einen Brunnen, der nie austrocknet, und hier bekommt die Kleine Milch, Rhabarber – und etwas, das sie nicht kennt: Aufmerksamkeit, Zuwendung – im Überfluss. Mr. Kinsella veranstaltet täglich einen sportlichen Wettbewerb mit dem Mädchen: Sie rennt zum Briefkasten und stoppt er die Zeit. Bald bleibt sogar die Matratze trocken ... Diese Familie hat ein offenes Geheimnis, eine Last, die sie tragen muss ... Das Mädchen erfährt davon von einer Nachbarin – und sie versteht nun die leichte Schwermut, die dieses Haus durchzieht. Es wird der glücklichste Sommer für Cáit werden, denn hier lernt sie, was Familie, Respekt und Liebe bedeuten. 


Claire Keegans Sprache ist präzise, sie schafft es, alles zu sagen und soviel mehr, dass es keine vielen Worte braucht. Sie schafft es wieder, in knapp 100 Seiten eine riesige Geschichte zu erzählen, voller Wucht und Mitgefühl. Zunächst ist das Mädchen namenlos – nur ganz kurz fällt irgendwann ihr Name: Cáit. Foster, so der Originaltitel, was so etwas wie Pflegschaft bedeutet – children in foster care – Kinder in Pflege – und darum geht es. Dieses kleine Mädchen erzählt uns ihre Geschichte, wie sie bei der Schwester der Mutter unterkommt und eine völlig neue Welt kennenlernt. Alles, was hier leicht von der Hand geht, für die Verwandten selbstverständlich scheint, setzt das Mädchen in Erstaunen. Langsam lässt sie sich in diese Welt hineingleiten ... Aber wo auf der Welt existiert die völlige Idylle? Claire Keegan ist eine Meisterin der ungesagten Töne – das Bild steht für den Lesenden zwischen den Zeilen. Grandios erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens, das entdeckt, was Familie für ein Kind sein könnte – sein sollte. Das Buch wurde kürzlich verfilmt unter dem Titel «An Caílin Ciúin (The Quiet Girl)» und als erster irischsprachiger Film für einen Oscar nominiert. Ein Roman, der berührt und den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!


Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Einige der Erzählungen der vielfach ausgezeichneten Autorin sind bereits bei Steidl erschienen: Wo das Wasser am tiefsten ist; und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022). Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.



Claire Keegan
Das dritte Licht
Zeitgenössische Literatur, Irische Literatur
Aus dem rischen Englisch übersetzt von Hans-Christian Oeser
Leineneinband mit Lesebändchen, 104 Seiten
Steidl Verlag, 2023





Kleine Dinge wie diese 

Irland, 1985, Kohlen- und Holzhändler Billy Furlong hat es geschafft. Er gehört zur Mittelschicht, ist glücklich verheiratet und er hat fünf wundervolle Töchter. Die Ältesten besuchen die katholische Schule des örtlichen Klosters. Vor Weihnachten hat Furlong viel zu tun, jeder möchte an den Feiertagen eine warme Stube haben. Das Kloster vor Ort ist ein guter Kunde, begleicht sofort die Rechnungen, darum fährt er sogar früh am Sonntagmorgen hinaus. Niemand ist zu sehen. Durch Zufall findet er in einem Kohleschuppen eine eingesperrte junge Frau: barfuß, spärlich gekleidet, durchfroren und verängstigt. Könnte an den Gerüchten etwas dran sein? Atmosphärisch dicht, das Konzentrat einer Geschichte. Diese Novelle ist eine literarische Kostbarkeit!

Weiter zur Rezension:  Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

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