Rezension
von Sabine Ibing
Dunkelzeit
von Erin Flanagan
Gunthrum, Nebraska, 1985: Es ist das erste Wochenende der Jagdsaison, und der geistig beeinträchtigte Hal geht mit Freunden jagen. Er ist Landarbeiter auf der Farm von Alma und Clyle, die ihn kinderlos sozusagen innerlich adoptiert haben. Am selben Wochenende verschwindet die 17-jährige Peggy Ahern nach einer Party spurlos. Als Hal von seinem Ausflug zurückkehrt, findet Clyle Blut im Truck und eine Delle am Kühlergrill. Seine Erklärung, er hätte eine Hirschkuh geschossen, im Auto transportiert und sei aus Versehen rückwärts gegen die Garage gefahren, machen ihn verdächtig, etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun zu haben. Die Gerüchteküche in Gunthrum köchelt, beginnt bald überzukochen. Und nach und nach stellt sich für Alma und Clyle die Frage, wozu Hal fähig sein könnte …
Weshalb ist Peggy in dieser Nacht verschwunden?
Wie befürchtet war auf dem Fußboden im Haus ein hässlicher rosa Fleck. Clyle stemmte die Hände in die Hüften. ‹Wo ist sie?›
‹Wer?›
‹Die Hirschkuh.›
Hal biss sich auf die Unterlippe. ‹Ich hab sie zum Müllplatz gebracht.› …
‹Wie hast du sie dort hinbekommen?›
‹Mit der Schubkarre.›
Clyle seufzte. ‹Die müssen wir also auch noch sauber machen.›
Wer hier einen typischen Krimi nach gängigem Rezept erwartet, wird enttäuscht. Letztendlich durchdringen wir als Lesende das Milleu einer Kleinstadt in Nebraska in den Achzigern. Zunächst einmal verschweigen Peggys Eltern, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen ist. Die Konfirmation des Sohnes ist wichtiger. Und im tiefsten Inneren haben sie vor etwas Angst: Sie könnte schlicht weggelaufen sein. Der junge Hal passt nicht ins Stadtbild, er ist anders, ein Volltrottel – per se verdächtig. Optisch ein attraktiver Mann, der sofort bei Frauen ankommt – bis er den Mund aufmacht. Und da ist Peggy, die dieses Kaff verlassen möchte. Ein lockeres Mädel – wer weiß, was ihr plötzlich einfiel. Alma, die mit Clyle der Großstadt den Rücken kehrte, um nach dem Tod von Clyles Eltern die Farm weiterzuführen – die in dieser streng protestantischen Gemeinde nie richtig angekommen ist, scheint dieser Ort immer vermiefter zu sein. Die ständige Beobachtung durch jeden schneidet ihr die Luft ab; ebenso die Scheinheiligkeit. Sie ist die Einzige, die hinter Hal steht, ihn bissig verteidigt wie eine Löwenmutter. Hal selbst ist vertrauensvoll gegenüber jedem, merkt nicht, wie man über ihn lästert, ihn ausnutzt. Doch so langsam begreift er, dass viele Menschen sich gegen ihn wenden, denen er vertraute. Milo, der 12-jährige Bruder von Peggy ist genervt, dass seine Schwester mal wieder im Mittelpunkt steht – er beobachtet feinsinnig, was in seiner Familie und in dieser Stadt vor sich geht. Hal hatte getrunken – und betrunken konnte er gewalttätig sein. Hal war auf der verlassenen Farm, auf der sich Jugendliche abends am Wochenende treffen – auch Peggy war dort. Hal war verknallt in die hübsche Peggy – wer nicht? Weshalb ist Peggy in dieser Nacht verschwunden? Ihre Eltern beauftragen einen Privatermittler, da die Polizei den Ball flach hält.
Ein Gesellschaftsroman, ein ruhiger Thriller
‹Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht.› Er sah Laura prüfend an.
‹In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.›
Drei Perspektiven, die von Alma, Clyle und Milo – immer tiefer dringt Erin Flanagan in das Kleinstadtmilieu ein, deckt Geheimnisse auf, Dramen, Lügen. Aber auch die Ehe von Alma und Clyle steht auf dem Prüfstand. Was ist nach all den Jahren übriggeblieben? Sie hatten sich Kinder gewünscht, was ihnen verwehrt wurde. Sie stehen zu Hal – doch langsam stellen sich Zweifel ein, und dann drängt sich auch noch Hals Mutter zwischen sie. Alma wird die Kleinstadt zu eng, sie sehnt sich zurück nach Chikago. Sie hatte sich bemüht, hier Fuß zu fassen – doch die Frauen halten sie auf Distanz. Und sie selbst hat keine Lust auf diese Strick- und Bibelrunden. Eine Geschichte, von der man weiß, wie sie ausgeht, die in dieser Zusammensetzung schon oft erzählt wurde. Ich hatte gehofft, dass sie sich außerhalb der Spur entwickelt – leider nein. Trotzdem ein runder Roman, da Erin Flanagan eine gute Erzählerin ist, die ihre Figuren psychologisch austariert aufgebaut hat, sie langsam entblättert. Der Roman ist ein Gesellschaftsroman und unter dem Genre Thriller einzuordnen. Diese Einordnung hat der Atrium Verlag wahrscheinlich vermieden, da dies ein softer Thriller ist und diese Klassifizierung vom Publikum oft falsch verstanden wird. Kriminalroman ist ein weiter Begriff. Ja, und genau hier setzt meine Kritik an: Es ist ein mittelmäßiger Roman, da ihm der Drive fehlt. Im Prinzip ok, aber Spannung kommt wenig auf, eine altbekannte Geschichte, die dahinplätschert.
Erin Flanagan, 1971 geboren, ist Professorin für Englische Sprache und Literatur an der Wright State University in Dayton, Ohio. "DunkelZeit" ist ihr erster Roman.
Dunkelzeit
Originaltitel: Deer Season
Aus dem Englischen übersetzt von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Kriminalroman, Gesellschaftsroman, Thriller, Kriminalliteratur, Amerikanische Literatur
Hardcover, 368 Seiten,
Atrium Verlag, 2023
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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