Rezension
von Sabine Ibing
Die schwarze Fee
von Kerstin Ehmer
Der Anfang: Sie zielt. Mit zusammengekniffenen Augen fixiert sie den mageren hellgrauen Rücken des Mannes, der drei Reihen vor ihr regungslos wie ein Ölgötze gegen den Fahnenmast lehnt. ... Mit leisem Zischen katapultiert die Zwille ihre hart gekaute Papierkugel direkt ins Ziel. Aber nichts passiert. Der Mann zuckt nicht mal.
Nachdem ich von Kerstin Ehmers Debüt »Der weiße Affe« begeistert war, wollte ich wissen, wie es mit Kommissar Ariel Spiro weitergeht. Und wieder ist ihr ein interessanter, historischer, literarischer Krimi gelungen. Berlin in den Zwischenkriegszeiten, Armut und Hunger überzieht die Stadt, eine russische Exilgemeinde tummelt sich in Berlin, insbesondere die intellektuelle Elite ist vor der kommunistischen Herrschaft geflohen. Aber auch diese Szene unterteilt sich in mehrere politische Lager, die untereinander verfeindet sind. In den Arbeitervierteln herrscht große Armut, Kranke können nicht behandelt werden, weil das Geld für den Arzt fehlt, Unterernährung, ein weiterer Faktor, der die Sterblichkeitsrate erhöht. Die Syphilis hat sich zu einer Volkskrankheit entwickelt. Kerstin Ehmer beschreibt das Leben neben dem Pomp der wilden Zwanziger, das Berlin von Heinrich Zille. Ein spannender Krimi.
... der AVUS, Berlins Rennstrecke, reserviert für den motorisierten Verkehr. Neun Kilometer ohne Kreuzung, ohne Pferdefuhrwerke, Fahrradfahrer und andere lästige Hindernisse, der Traum eines jeden frischgebackenen Automobilisten.
Zwei Männer werden tot aufgefunden, der eine auf einem Dampfer, der andere in der Straßenbahn. Einfach gestorben, weggenickt, tot. Viel zu jung für einen natürlichen Tod, meint Spiro – und die Gerichtsmedizin bestätigt seine Vermutung. Die Dahingeschiedenen starben an einem Giftcocktail. Wer sind diese Männer? Niemand wird vermisst. Der Fall ist rätselhaft. Und dann taucht auch noch Nike bei Spiro auf – Nike, die leichtlebige Bankierstochter, unerreichbar, die er schwer vergessen kann. Sie möchte eine Vermisstenanzeige erstatten, ihr Freund, der Arbeiter Anton wird vermisst, ein Mitglied der SPD, der aber mit den Anarchisten liebäugelt. Nike studiert nun Medizin, leistet gerade Dienst im Krankenhaus, geht abends in die Arbeiterviertel um Kranken zu helfen. Spiro ist verwundert über ihre neue Ernsthaftigkeit. Und was hat sie in anarchistischen Kreisen zu suchen?
Sie brüllen los: »Hätter, hätter, hätter nicht, geküsst die alte Dirne, wärer, wärer, wärer nicht weich in seiner Birne.
Atmosphärisch dicht zieht uns Kerstin Ehmer in die Zwischenkriegszeit, die Tiefe zu den Protagonisten schafft sie durch die personale Schreibweise, in der alle handelnden Personen von Kapitel zu Kapitel wechseln, die verschiedenen Sichtweisen klar herausgearbeitet werden. Die ersten Konfrontationen zwischen Nazis und Sozialisten treten auf. Es gibt erste Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung. Nike zum Beispiel muss als Jüdin eine höhere Studiengebühr an der Universität bezahlen. Ariel Spiro ist in diesem Roman nur einer unter vielen Spielmachern. Interessant fand ich auch Darstellung der Gefährlichkeit der Syphilis, die oft durch Unwissenheit weitergetragen, bzw. nicht behandelt wurde, Babys, die infiziert geboren werden. Der Wedding ist Haupt- und Angelpunkt in dieser Geschichte, Kneipen, die Charité, das Leben der Arbeiter in diesem Stadtteil, die Gasanstalt, ein großer Arbeitgeber zu dieser Zeit, Schmutz in der Luft. Gut recherchiert präsentiert uns die Autorin eine glaubhafte Geschichte mit dichter Atmosphäre und Sprache. Literatur trifft Krimi und Historisches, ein sich wandelndes Berlin, die harten Töne, die bald folgen werden sind im Subtext bereits platziert. Ich bin gespannt, wie die Geschichte um Ariel Spiro und die jüdischen Bankierstochter weitergehen wird.
Kerstin Ehmer arbeitete viele Jahre als Mode- und Porträtfotografin. Seit sechzehn Jahren betreibt sie
mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. Sie verfasste das Buch »Die Schule der Trunkenheit«, das sich zu einem Longseller entwickelte. 2017 erschien mit »Der weiße Affe« ihr erster Kriminalroman und ihr erster Fall mit Kommissar Spiro.
Rezension zum ersten Teil zu dieser Krimiserie
Der weiße Affe von Kerstin Ehmer
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