Direkt zum Hauptbereich

Die Putzhilfe – Regina Nössler - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Putzhilfe 


von Regina Nössler


Der erste Satz: 

Als sie losging, unbeholfen wegen des Gepäcks und der schmerzenden Hüfte, setzte der Regen ein.


An einem regnerischen Mittwochabend im November packt Franziska Oswald in der Vorstadt von Münster  zwei Koffer und einen Rucksack, hinkt leicht verletzt zur Bushaltestelle, fährt zum Bahnhof und steigt in den Zug nach Berlin. Sie geht dabei sehr umsichtig vor, parkt ihren Wagen vorher auf einem Supermarktparkplatz, so dass man denken mag, sie sei mit dem Auto unterwegs, mache Überstunden. Sie hofft, dass sie weit weg ist, bevor ihr Mann ihr Verschwinden bemerken wird. Er darf sie nicht finden! Sie darf keine Spuren hinterlassen, die er nachverfolgen kann. In Berlin Neukölln mietet sie sich unter falschem Namen eine kleine Bruchbude.


Sie braucht einen Job


Wie sie sich in den Ecken der Wohnung herumdrückte, wenn Leonie da war, wie ein struppiges, grau-braunes Tier, das weghuschte. Dass sie ihr nicht in die Augen sehen konnte. Dass sie Henny immer noch nicht ihren Ausweis gezeigt hatte. Es war kaum zu glauben, dass ihre übervorsichtige Tante jemandem einfach so den Schlüssel überließ.


Frau Dr. Franziska Oswald, Soziologin, dreiunddreißig, arbeitet an ihrer Habilitation – aber sie lässt ihr altes Leben hinter sich, versteckt sich in der Großstadt. Das Gesparte wird nicht ewig reichen, sie braucht einen Job. Auf der Museumsinsel trifft sie auf Henny Mangold, eine sechzigjährige Witwe, die einen kurzen Schwächeanfall erleidet. Franziska hilft, man kommt ins Gespräch, und so stellt sich heraus, dass Henny eine Putzhilfe sucht. Warum nicht. Henny wohnt in einer riesigen Wohnung, die wie ein Museum anmutet, im vornehmen Stadtteil Dahlendorf. Sie vertraut Franziska, die sich jetzt Marie Weber nennt. Doch die Nichte von Henny verlangt von Marie den Ausweis, traut ihr nicht über den Weg. Henny winkt ab. Und dann ist da noch die Jugendliche Sina, mit der sich Marie anfreundet. 


An der Nase herumgeführt


Was ich an Berlin hasse: Dass ich mich immer wieder verlaufe. Es ist so unübersichtlich und riesig. Ich frage mich, warum es nicht allen so geht, aber ich scheine die Einzige zu sein. Rumbrüllen auf der Straße hasse ich auch. Drogen. Verrückt. Angst, mich zu verlaufen. Angst, mich selbst nicht mehr wiederzufinden.


Der Leser fragt sich, warum Franziska Ehe mit Reihenhaus verlässt, ihren Job an der UNI Münster schmeißt. Es gibt Andeutungen zu einem übergriffigen Ehemann, ein Kontrollfreak, der mit ihren Kollegen nicht klarkommt, die sie nicht mehr zu sich nach Hause einlädt. Aber warum das Verstecken? Wer ist dieser Ehemann wirklich? Mit Henny Mangold stimmt auch etwas nicht, sie scheint zeitweise etwas verwirrt. Eine Story, die sich ganz langsam aufrollt, den Leser in eine Richtung führt – auf den falschen Dampfer. Nichts ist, wie es scheint. Erst am Ende lösen sich die Stränge auf. Ein mitreißender Showdown löst alle Fragen auf und lässt einen überraschten Leser zurück. Man fühlt sich ertappt, in die Vorurteilsfalle getreten zu sein, eingelullt in die biedere Vorstellung vom Spießertum. Was für ein Ende! Exzellent! Ein leiser Thriller, der aber von Anfang an einen Sog entwickelt, unterschwellige Spannung aufbaut. Menschliche Abgründe, Lebenslügen und Überforderung, drei letztendlich innerlich zerrissen Frauen, fein aufgebaute Charaktere. Was wirklich geschehen ist, wird nur angedeutet – der leere Raum füllt die Vision des Lesers. Das erste Mal hat mich Regina Nössler mit Bobby hereingelegt. Sie schafft es, Vorstellungen im Leser zu wecken, die sich als Trugbild bewahrheiten – das ist eine Kunst! Insbesondere, wenn sich gewiefte Kimi- und Thrillerleser hereinlegen lassen. Chapeau!


Die alte und die neue Arbeit. Von der geistigen Elite zum Putzen.


Regina Nössler, Studium Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Bochum, freiberufliche Autorin und Lektorin in Berlin. Regina Nössler beschäftigt sich in ihren Romanen und Erzählungen mit den Paradoxien menschlichen Alltags und sozialer Realität, schreibt seit einigen Jahren ungewöhnliche Thriller und kümmert sich nicht um das, was als «Mainstream» gilt. «Schleierwolken» kam auf die Krimibestenliste! Und auf die Longlist des Kölner Crime Awards 2018. 2020 wurde «Die Putzhilfe» mit dem Deutschen Krimipreis (Platz 2) und dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet. 


Regina Nössler
Die Putzhilfe
Thriller, Kriminalliteratur
Taschenbuch, 402 Seiten
Konkursbuch Verlag, 2019 





Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Nur noch kurz ein kleiner Furz! von Jonny Leighton und Mike Byrne

Kinder lieben Pupsbücher! Wie ist das eigentlich mit den Tieren? Wie pupsen die? Auf einer urkomischen Reise durch das Reich der Flatulenz beobachten Elefant und Maus die unterschiedlichsten Fürze. Und so lernt die Maus, dass Pupsen die normalste Sache der Welt ist! Witzig gestaltet, den Text in Reimform gebracht, macht dieses Bilderbuch Spaß! Lustiges Bilderbuch ab 3 Jahren, Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Nur noch kurz ein kleiner Furz! von Jonny Leighton und Mike Byrne

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Abbruch - Alles Gute von Eva Rossmann

  Alles Gute von Eva Rossmann Abbruch! Wir beide kamen nicht zusammen. Der Anfang konnte mich nicht begeistern, ich fühlte mich eher wie in einem Kochbuch, nicht wie in einem Krimi. Peter Gruber hat Eine App gegen die Spaltung der Gesellschaft geschrieben, «LISA wünscht ALLES GUTE», die Millionen User hat und damit ist er reich geworden, aber er hat den größten Teil in eine Stiftung gesteckt und etwas für seine Nichte bereitgelegt. Weil er sich bedroht fühlt, verabredet er sich mit der Journalistin Mira Valensky. Gruber erscheint nicht, ist plötzlich spurlos verschwunden. Freiwillig untergetaucht – wenn ja warum? Oder was immer auch passiert ist … Ich habe versucht, zu verstehen, was das für eine App ist. Man kann damit Menschen per Strichmännchen «Alles Gute» wünschen? Und damit soll Gruber Millionen verdienen, weil die User dafür bezahlen? Peter Gruber, ein ehemaliger Lehrer, der vor heutigen politischen Tendenzen warnt, die an die 1930er Jahre erinnern, plädiert für mehr Freundl...

Rezension - Entführung im Drachenwald von Barbara van den Speulhof und Kurzi Shortriver

Theos bester Freund ist der Drache Kokolo, aber das darf keiner wissen. Denn Drachen gibt es ja gar nicht. Mitten in der Nacht klopft Kokolo an Theos Fensterscheibe: Sie müssen schnell etwas unternehmen denn der fiese Adler Malo hat eins der Babys von Tante Xenna Drachen entführt!  Werden sie noch rechtzeitig kommen? Lesenlernen mit einem Comic, kurze Texte, für Leseanfänger konzipiert. Eine spannende Graphic Novel ab 6 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Entführung im Drachenwald von Barbara van den Speulhof und Kurzi Shortriver

Rezension - #Erstkontakt von Bruno Duhamel

  Doug, ein ehemaliger Fotograf lebt von der Öffentlichkeit zurückgezogen in den schottischen Highlands. Niemand liked seine Fotos, er ist frustriert, darum hat er seit 17 Monaten nichts veröffentlicht. Doch dann fotografiert er durch Zufall am See vor seiner Haustür ein seltsames Wesen – und teilt den Schnappschuss im sozialen Netzwerk «Twister». Danach geht er duschen, kommt zurück, kann es nicht fassen: «150.237 Personen haben auf ihren Post reagiert; 348.069 mal geteilt». Sofort bereut er seinen Post. Er ahnt, was nun geschehen wird, er hat Büchse die Pandora geöffnet … Ein herrlicher Comic, Graphic Novel, fast ein Cartoon, nimmt mit schwarzem Humor Social Media und Aktivist:innen diverser Gruppen auf die Schippe. Weiter zur Rezension:    #Erstkontakt von Bruno Duhamel

Rezension - Italien: Food. People. Stories von Haya Molcho & Söhne

  Haya Molcho begibt sich mit ihren Söhnen auf eine italienische Reise von Triest bis nach Sizilien, wobei sie lokale Produzent:innen und Köch:innen besuchen, die über die unterschiedlichsten Facetten der italienischen Kochkunst erzählen und uns ihre liebsten Rezepte verraten. Im zweiten Teil der kulinarischen Reise gibt es italenische Rezepte der Familie, typisch Neni. Levantinische Küche trifft auf italienische Originalrezepte; dabei auch traditionelle italienische Gerichte im Original. Reiseliteratur, Kulinarisches mit vielen Rezepten, Italienische Küche, Levante-Küche – Empfehlung. Weiter zur Rezension:   Italien: Food. People. Stories von Haya Molcho & Söhne

Rezension - Mäc Mief und die stinkbesonderen Unterhosen von Carola Becker, Ina Krabbe

  Wer hat die Superschaf-Unterhose geklaut? Finn ist sauer! Jemand hat seine stinkbesonderen Unterhosen von der Leine gestohlen. Sein Freund Mäc Mief muss den Dieb aufspüren, denkt sich Finn. Das schottische Schaf Mäc Mief liebt nichts mehr, als auf seiner Weide zu stehen und in Ruhe saftiges Gras zu fressen. Aber für seinen Lieblingsmenschen Finn geht die Spürnase auf die Suche. Gemeinsam mit seiner Freundin, Hütehund Bonnie, versuchen sie a la Sherlock Holms und Watson der Unterhosenbande auf die Spur zu kommen.  Weiter zur Rezension:    Mäc Mief und die stinkbesonderen Unterhosen von Carola Becker, Ina Krabbe

Rezension - Demon Copperhead von Barbara Kingsolver

  Gesprochen von Fabian Busch Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 20 Std. und 39 Min. Ein Trailer in den Wäldern Virginias. Das Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der «Hillbilly-Cadillac»-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups, aufgegeben von sämtlichen Superhelden und dem Rest der Nation. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt. Seine Teenie-Mutter ist frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein starker Charakter mit großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen schlägt sich durch: Er lebt in Armut mit einer Junkie-Mutter, ein gewalttätiger Stiefvater kommt dazu, es folgen Pflegefamilien mit Gewalt, Missbrauch, Kinderarbeit. Aufwärts geht es mit Comiczeichnen, Football; weiter geht es mit Drogensucht durch Oxi und Meth, erste Liebe und unermesslicher Verlust. Ein Bildungsroman, der berührt, kraftvoll erzählt. Empfehlung. Weiter zur Rezension:  Demon Copperhead von Barbara Kingsolver 

Rezension - Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter

  Eine türkische Familiengeschichte, die mit der Urgroßmutter und der Großmutter einleitend beginnt. Die nächste Generation wandert nach Deutschland aus – das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Der Traum, den viele «Gastarbeiter» träumten: Arbeiten, viel Geld verdienen, nach Hause zurückkehren und ein Haus bauen. Und dann wurden aus den Gästen Einwohner. In Deutschland die Türken – in der Türkei die Deutschen – entwurzelt, nirgendwo wirklich zu Hause. Eine Familie, die sich bemüht hat, sich zu integrieren. Ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter – zwei völlig verschiedene Generationen, aber auch eine Abrechnung mit der deutschen Gesellschaft und eine mit dem Heimatland und dem Machismo, mit der Erniedrigung der Frauen. Ein hervorragender Gesellschaftsroman, ein Bildungsroman über Migration, Rassismus und Misogynie – meine Empfehlung! Weiter zur Rezension:     Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter