Rezension
von Sabine Ibing
Die Jagd
von Sasha Filipenko
... das Jahr läuft wie immer – Diplomaten unterzeichnen sinnlose Abkommen, Fußballer schießen entscheidende Tore. Männer betrügen ihre Frauen, der rote Kaviar wird billiger. Wie in jedem anderen Jahr auch stürzen Air-France-Flugzeuge ab und werden Pilger in Mekka zertrampelt.»
Der Journalist Anton Quint, bekommt Informationen zu einem Oligarchen zugesteckt und veröffentlicht diese auf seinem Blog. Unmengen Geld und Immobilien in seinem Besitz. Woher weiß dieser Mann das?, fragt sich der verärgerte Oligarch. Er muss sein schönes Leben im Ausland verlassen. Man soll dem Mann das Maul stopfen. Aber nicht umbringen – so etwas macht der Oligarch nicht, er ist doch nicht in den Neunzigern steckengeblieben! Der soll auswandern! Ganz langsam kümmert sich ein Team um den Journalisten, macht ihm das Leben zur Hölle. Ihr könnt mich mal, sagt der – damit hat er gerechnet. Die Daumenschrauben anziehen ... der Mann hat ja Frau und Kind. Man wird sehen, wie ihm das schmeckt!
Die Leere als Provokation
... dass jeder, der diese Nachricht geteilt hat, automatisch zu ihrem Urheber wird. Mehr noch, da nicht der Text als solcher vervielfältigt wurde, sondern die Leere, hat jeder, der auf ‹Teilen› geklickt hat, nicht nur das Begonnene weitergeführt, sondern etwas Neues erschaffen. Hier liegt ein Verbrechen vor, das von einer ganzen Personengruppe verübt wurde.
Der Roman lässt den Lesenden schon allein dadurch nach Luft schnappen, weil er von 2016 stammt. Eine Szene am Anfang daraus: Ein Blogger setzt einen leeren Post ins Netz, wird verhaftet und gefragt, was er sich dabei gedacht hat. Nichts, sagt er, er wollte sehen, wie die Menschen reagieren – auf eben nichts. Die Kirche fühlt sich provoziert, verlangt Bestrafung. Am Ende erhält der Mann die Todesstrafe und alle, die den Post geteilt haben, werden eines Verbrechens beschuldigt. Es sind die kleinen Randgeschichten, die den Roman interessant machen. Der Präsident wird sich die Ukraine einverleiben; das wird hier bereits vorausgesagt. Dieser Oligarch wohnt in einer Villa in Südfrankreich, seine Kinder gehen auf Privatschulen, die Mutter sonnt sich an Deck der Luxusjacht, geht gerne shoppen; das Leben könnte nicht schöner sein im dekadenten Westen, den man ja offiziell verabscheut. Der Sohn träumt davon, Fußballstar zu werden, drum hatte Papa einen französischen Club gekauft. Aus der Traum – ab zurück nach Moskau. Papa gibt ein Interview: «er verfüge über keinerlei Immobilien im Ausland, sein einziger Reichtum sei das heilige Russland.» Die Kinder sind stinkig. Schuld daran ist dieser Journalist!
Hineingeblickt in die russische Seele
In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen. Die Angliederung von Halbinseln, die Erfindung von Feinden – all das ist eine einzige große, so wie die Geschichte des Landes, ins Unendliche hinausgezögerte Masturbation.
Multiperspektiv erfahren wir auch etwas über Kalo und Lew, die den Journalisten Anton Quint mundtot machen sollen. Lew war selbst einmal ein bekannter Sportjournalist. Nur, man soll nicht seine Frau betrügen, wenn der Schwiegervater Oligarch und Besitzer der Zeitung ist ... die Rutsche nach ganz unten endet ziemlich tief. Für die beiden bedeutet die gut bezahlte Drecksarbeit den Aufstieg im System. «Russland ist ein Land, in dem die Mehrheit nur Lügen glauben will.» Und so hat der Journalist keine Chance. Letztendlich kann man diesen Roman unter dem Genre Thriller einordnen. Für mich hatte das Buch sogar etwas von Realsatire, so wie die Figuren aufgebaut sind. Man kann der Geschichte den Zynismus nicht abschreiben. Hineingeblickt in die russische Seele. Überzogen? Mit Absicht – und ganz dicht dran an der Wahrheit. Und kommen wir zum Anfang zurück, zum leeren Post, für den ein Blogger sein Leben lassen musste. «Unser Imperator spricht in Worten, die nichts bedeuten, sein Gefolge denkt sich Gesetze aus, die keinen Sinn ergeben.» In Moskau protestierten im letzten Monat Menschen mit weißen Schildern gegen den Krieg. Sie provozierten mit der Leere und wurden verhaftet. Ein feiner Noir-Roman von einem belarussischen Schriftsteller, einem Gagschreiber für eine Satireshow, in der er selbst auftritt – der im Ausland leben muss, weil er nicht nur weiße Blätter veröffentlichte.
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er hat Russland verlassen und hält sich derzeit an wechselnden Wohnorten in Westeuropa auf. Er war 2022 mit «Rote Kreuze» auf der Shortlist für den «EBRD Literaturpreis», vergeben von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung für übersetzte Belletristik, und erhielt die «Writer in Residence» 2021 Nähe Genfersee in der Schweiz.
Die Jagd
Originaltitel: Trawlja
Aus dem Russischen übersetzt von Ruth Altenhofer
Zeitgenössische Literatur, Thriller, Noir, russische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten
Diogenes Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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