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Der Junge, der mit den Wölfen spricht von Sam Thomson - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Junge, der mit den Wölfen spricht 

von Sam Thomson



Der Wolf stand mitten auf dem Weg und beobachtete ihn. Sein Kopf war auf Höhe von Silas’ Brust. Noch nie war er einem wilden Tier so nahegekommen.


Silas trifft im Wald eines Tages auf einen verletzten Wolf. Zunächst hat er Angst vor dem wilden Tier. Doch der Wolf kommt auf ihn zu, hält seine Pfote hin und der Junge zieht eine Messing-Reißzwecke heraus. Schnell verschwindet das Tier im Dickicht und schon taucht ein Rudel Füchse auf – und die sprechen Silas zu seiner Verwunderung in Menschensprache an. Sehr aggressiv fragen sie nach dem Wolf, den sie suchen. Doch Silas bleibt stumm. Silas hat ein Problem, er stottert, «die Wörter, die er sagen wollte, steckten fest». Und weil keine richtigen Worte aus seinem Mund kommen, hält er ihn lieber. Die Füchse nehmen ihn in die Zage, beißen ihn sogar heftig, bis sie merken, der Junge weiß wirklich nichts, und sie verschwinden. Der Wolf kommt zurück. Auch er kann sprechen, und er erklärt Silas, dass sie sich im verborgenen Teil des Waldes befinden. 


Sein Kopf war voller tropfender Blätter und tiefer Täler und ferner Berge. Er fühlte, wie die Wölfe sich lautlos durch die Landschaft bewegten. Isengrim hatte ihm erklärt, dass der WALD überall war und dass man an jedem Ort einen Weg hineinfinden konnte, wenn man nur danach suchte.


Er nimmt den verletzten Jungen mit in sein Versteck, wo die Wölfin, Hersent, die Verletzung pflegt. Die Wölfe erzählen ihre Geschichte: Tief im Wald leben die Füchse in einer unterirdischen Stadt. Damals konnten die Wölfe nicht sprechen, die Füchse haben sie die Sprache der Menschen gelehrt. Die Sprache gab den Füchsen Macht! Sie manipulierten damals die Wölfe, ließen sie für sich arbeiten, und weil sie ihnen Namen gaben, konnten sie sie unterjochen. Immer mehr Wölfe starben bei der schweren Arbeit, bis nur noch Isegrim und Hersent übrigblieben. Sie haben es geschafft, abzuhauen, ihre Welpen sollen in Freiheit leben. Doch die Füchse wollen sie wieder einfangen, in die Sklaverei zurückbringen. In dieser Welt bedeutet Sprache Macht! Die Wölfe bitten Silas um Hilfe. Es wird ihm aber nur gelingen, wenn er seine Stimme findet. Die Füchse sind schlau, sie werden Silas später manipulieren, eine andere Geschichte von den bösen Wölfen erzählen. Oder stimmt vielleicht diese Darstellung, und die Wölfe haben gelogen? Silas ist verunsichert. Er wird sich für eine Seite entscheiden müssen.


Schwankende Blätter ließen Sonnenlicht hereintröpfeln und sorgten für ein endloses Flüstern, das sich mit dem Zwitschern der Vögel zu einem mächtigen Säuseln verband, einem Klang, größer und tiefer als Stille. Die reine und frische Luft war wie ein Versprechen, dass gleich etwas geschehen würde; und dieses Etwas würde allumfassend sein.


Ein sehr spannendes, empathisches Fantasyabenteuer für Kinder ist Sam Thomson mit diesem Kinderroman gelungen. Ich würde dieses Märchen zu den Fabeln einreihen. Das Kinderbuch wurde übrigens für den Booker Prize nominiert! Ganz davon ab, dass dies ein sehr fesselndes Buch ist, gibt es feine poetische Stellen, und es steckt inhaltlich jede Menge Kraft in dieser Geschichte. Die Macht der Sprache, der Manipulation. Die gutmütigen Wölfe haben den Füchsen vertraut, für sie geschuftet – und dann wurde nichts geteilt, sondern die Wölfe wurden eingesperrt und versklavt. Sklavenarbeit: nicht nur die Wölfe sind betroffen. Auch innerhalb der Fuchsstruktur gibt es die, die regieren, alles bekommen, bestimmen; ein Diktator steht oberhalb der Pyramide und unten gibt es Lohnsklaven, die sich abschinden müssen, nicht viel dafür erhalten. Wer aufmuckt, wird bestraft. Vertrauen, Freundschaft und Mut – die üblichen Themen in einem Abenteuerbuch, die Beziehung zwischen Mensch und Natur wird unterschwellig angesprochen. 


Denn er kannte die Wunden, die Worte jenen schlagen können, die im Schweigen leben müssen.


Die Stotter-Thematik von Silas gut getroffen und umgesetzt, und wir erfahren, dass er in der Schule «Stiller» genannt wird, man lacht ihn aus, weil er nicht spricht. Die Geschichte spielt zu 95 Prozent in der Parallelwelt, somit erleben wir wenig aus der realen Welt von Silas. Hier hätte ich gern ein wenig mehr gelesen. Gut, es ist ein dünnes Buch mit gewaltigem Inhalt. Die Charaktere sind prima herausgearbeitet. Alles in allem ist dieser Kinderroman hervorragend, ein Pageturner, empathisch, voll inhaltlicher Sprengkraft – gern mehr von Sam Thomson. Der Thienemann Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahren. Passt - Abteilung Lieblingsbuch.


Sam Thompson wurde 1978 in London geboren. Sein erstes Buch, Communion Town, wurde 2012 veröffentlicht und für den Man Booker Prize nominiert. Er hat für die Times Literary Supplement, die London Review of Books und andere Zeitschriften geschrieben und an der Oxford University, Oxford Brookes und der Queen’s University Belfast englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Heute lebt er in Belfast.



Sam Thomson 
Der Junge, der mit den Wölfen spricht
Originaltitel: «Wolfstongue»
Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke
Kinderroman, Abenteuer, Fantasy, Märchen, Fabel, Kinder- und Jugendliteratur, Kinderbuch
Hardvover, 208 Seiten
Thienemann Verlag, 2022
Altersempfehlung: ab 10 Jahren





Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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