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Der Hütejunge von Ulrike Blatter - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Der Hütejunge 

von Ulrike Blatter


Der Anfang: Mai 1934 -1937. Jeder Mensch ist im Augenblick seiner Geburt nackt und unwissend. Als der Junge in die Welt stürzte, wusste er bereits einiges. Aber er verstand nichts.

Der Junge ist das sechste Kind. Sein Vater ist vier Wochen vor seiner Geburt verstorben. Er war wegen regimekritischer Äußerungen vor Gericht vorgeladen, schlug den Nazis mit seinem Tod ein Schnäppchen. Sie konnten ihn nicht mehr verurteilen. Allerdings wird der Witwe aus diesem Grund die Rente von der Reichsbahn verweigert. Die Tante meldet das Kind auf dem Amt an, allerdings nicht mit dem Vornamen, den die Mutter ausgesucht hat. Der Name ist amtlich. Und weil die Mutter diesen Namen nicht über die Lippen bringt, bleibt der Junge namenlos.

Zunächst ist das Wort Krieg abstrakt

Dieses Kind wächst auf in Zeiten des Hitler-Regimes in einem kleinen Dorf in der Eifel, an der belgisch-luxemburgischen Grenze. Die Zeiten sind hart, manche sagen, unter dem Führer wird alles besser. Doch nichts wird besser, der Zweite Weltkrieg beginnt.
Ulrike Blatter hat das Buch aus der Sicht des Kindes in der personalen Er-Perspektive geschrieben, distanziert, beobachtend, staunend aus der kindlichen Sicht. Der Junge hütet die Kühe, als er älter wird, ist stolz darauf, auch etwas leisten zu können, so, wie die großen Geschwister. Soldat zu sein, Flugzeuge zu fliegen, Krieg scheint eine interessante Sache zu sein, so glaubt er. Kinder erleben die Kriegszeit oft als nicht sonderlich bedrohlich, besonders im ländlichen Bereich. Uniformen, Gewehre, Flugzeuge haben etwas Faszinierendes. – Ich kenne die Geschichen von meinen Eltern, die 11 Jahre alt waren, als der Krieg zu Ende war. Nachts aufstehen, in den Bunker gehen, nachts dort mit anderen Kindern spielen, in Trümmern spielen, ein Abenteuer. Ausgebombt, auf Land ziehen, Schule fällt aus, etwas Neues erleben. – Die Eltern der Kriegskinder haben damals ihre eigenen Ängste vor den Kindern verborgen, alles ist gut … – Zunächst ist der Krieg für den Jungen abstrakt, irgendwo weit weg, interessant. Doch das Grauen rückt heran mit all seinem Leid. Die Lebensmittel werden immer knapper und man isst so manches, das man in normalen Zeiten nicht über die Lippen gebracht hätte. Auch die Kampfhandlungen ziehen nun heran. Der Junge erlebt Schreckliches. Der untere Teil vom Dorf wird teilweise durch die Flieger zerstört, Leichen stapeln sich in der Kirche, stinken, werden in Schränke verfrachtet, um sie zu beerdigen. Für die Überlebenden ein hartes Unterfangen im Winter, denn die Erde ist gefroren.

Es musste wohl gegen Morgen sein, als die Luft über dem Dorf zerplatzte wie ein zu prall aufgeblasener Ballon. … Aus dem Himmel, der in Fetzen hing, drang ein pressluftgetriebenes Heulen und Pfeifen, das ihm gewaltig bis in die Eingeweide drang. Das begann mit einem dumpfen Ton ganz weit hinten und zog eine flache Bahn über die Häuserdächer.

Bomben legen das Dorf in Schutt und Asche

Das Dorf, als Aufmarschgebiet für die Ardennenoffensive, wird immer weiter bombardiert, auch die Familie des Jungen wird obdachlos. Die Sirenen warnen schon lange nicht mehr, sie sind abgeschossen. Der älteste Bruder, Johannes, wird eingezogen, muss nun doch noch in den Krieg ziehen. Die Mutter ist froh, dass er »nur« nach Frankreich geht und nicht in den Osten abkommandiert wird. Die ausgebombte Familie muss nun mit anderen Leuten zusammenrücken, Platz und Nahrung werden immer weiter reduziert. Hunger ist seit Jahren Normalität.

Eines Tages würde es keine Väter mehr geben. Nach dem heutigen Tag gab es nur noch Frauen und Kinder, alte Leute und – Soldaten.

Historische Daten fein verpackt

Ulrike Blatter schreibt sehr eindringlich vom Kriegsgeschehen in der Eifel, chorologisch, sachkundig. Sie hat zu den Ereignissen sehr genau im Stadtarchiv von Stadtkyll geforscht, Überlebende des Kriegs zu den Vorkommnissen interviewt. Stadtkyll ist der Heimatort ihres Vaters. Die Interviews haben die historischen Ereignisse menschlich untermauert, Leid geschildert, Geräusche, Gerüche, Gefühle. All dies hat die Autorin gekonnt miteinander in der Geschichte verwoben.
Sie versetzt sie sich sehr emphatisch in das Gefühlsleben des Jungen hinein und schildert detailliert, was er sieht. Schon in den Jahren vor dem Krieg erlebt der Junge die Indoktrinierung der Kinder durch die neue Regierung, die Verlockungen durch die Nazis, das Denunziantentum. Vieles versteht er nicht, er beobachtet, wenn er zum Beispiel von den Nazis berichtet, die überall ihre Nase hineinstecken. Der Mann, der einfach in die Küche tritt, das orangefarbene Schildchen am Radio befestigt; von Frequenzen, Feindsendern und Lügenpropaganda ist die Rede. »Gemeinsam mit unserem Führer Adolf Hitler leben wir wahrhaftig in großen Zeiten«, sagt er. Die Mutter bittet ihn, zu gehen, und am Abend hört der Junge im Bett das Sendezeichen des englischen Senders … Am Ende des Kriegs sind 70 Prozent des Dorfs zerstört und viele Menschen sind tot. Vertriebene kommen zurück, stellen Ansprüche. Das Leid ist noch lange nicht zu Ende, aber man kann wieder in eine gute Zukunft hoffen.

Eine Generation in Schweigen verfallen

Eine Generation der Verschwiegenen. Fragte ich als Kind nach der Hitler-Zeit, dem Krieg, bekam ich meist nur lustige Anekdoten aus der Nachkriegszeit erzählt. Krieg war schlimm, das Grauenhafteste, was man sich vorstellen kann, sagten die Großmütter. Das war es. Die Großväter waren stumm. Die Eltern erlebten die Kindheit ausgebombt auf dem Land, weit weg vom Kriegsgeschehen als freundlich, die Nachkriegszeit war für sie der Horror. Für die eine Großmutter, eine städtische Dame, war die Zeit auf dem Land der blanke Horror - harte Züge um den geschlossenen Mund, Tränen in den Augen bei der Erinnerung – aber kaum ein Wort darüber: schlimm, Hunger, harte Arbeit. Die tiefer liegenden Gründe habe ich nie herausbekommen. Ich weiß nicht, was sie außer Erntehilfe und Stricken tun musste, um sich und ihren Kindern das Überleben zu sichern. Mit über 50 habe ich dann nebenbei von den Eltern erfahren, dass es im österreichischen Zweig der Familie jemanden gab, der von Heckenschützen nach dem Krieg mit einem Kopfschuss niedergestreckt wurde. Ein fieser SS-Kommandeur. Mir wurde vorher immer gesagt, unser Onkel ist im Krieg gefallen, wie so viele. Schweigen – verschweigen. Dieser Roman bricht mit dem Schweigen – er berichtet vom Grauen – Grauen das diese Generation bis heute verfolgt, Kriegstraumata. Vielleicht animiert der Lesestoff den ein oder anderen, sein Schweigen gegenüber den Kindern und Enkeln zu brechen.

Eindringlich und bildhaft geschrieben

Bisher hat Ulrike Blatter Krimis geschrieben, die mir gut gefallen haben. Mit diesem historischen Buch beweist sie ihr literarisches Können in diesem Bereich. Denn sie kann erzählen, eindringlich, bildreich, das beweist sie bereits in den Krimis. Von Beruf ist die Autorin Rechtsmedizinerin. An manchen Stellen in diesem Roman ist das gut zu spüren, immer dann wenn sie Zerstörung, Tod, Verwesung und medizinische Belange beschreibt. Hier hat man Bilder im Kopf, deutlich – unangenehm, Bilder, die uns daran erinnern, wie schrecklich Krieg in seinem Ausmaß wirklich ist.
Ein lesenswerter historischer Roman.


Mein Interview mit Ulrike Blatter:   Interview mit Ulrike Blatter

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