Rezension
von Sabine Ibing
Wie schön, hier aufzuwachen. Kurz vor sechs kräht der Hahn sein Lied. Wenig später dringen die ersten Klänge des erwachenden Dorfes an mein Ohr: Tomás mit dem Motorpflug, Javier mit dem Motorpflug, Rogelio mit dem Traktor, Paco mit dem Motorpflug.
Eine feine Satire voller Sarkasmus und respektvoller Ironie
Ich habe beschlossen, mich ans Werk zu machen. Ich kann nicht warten, bis der Bürgermeister sich pro oder contra äußert. Ich habe mir gedacht, ich muss bei null anfangen, und werde einen Workshop zur neuen Männlichkeit anbieten. Ich bin zur Sekretärin gegangen und habe sie gebeten, über die Lautsprecheranlage des Rathauses Folgendes zu verbreiten: Hiermit wird bekannt gegeben, dass für alle, die Lust haben, ab jetzt immer dienstags ein didaktisch-lebenspraktischer Workshop zur neuen Männlichkeit aus genderkritischer Sicht stattfindet.
Nachhaltigkeit, Identitätspolitik und Wokeness
«WORKSHOP-GRUPPE NEUE MANNLICHKEIT ROSARIO LAFAJA, HAUSFRAU: Also ich fand den Workshop wirklich sehr interessant.ADORACIÓN TENA, HAUSFRAU: Und wie er geredet hat!ROSARIO: Besser als der Pfarrer.ASCENCIÓN TENA, HAUSFRAU: Etwas anstrengend war das mit dem ständigen ‹Männlein› und ‹Weiblein›»
Ein Hipster im leeren Spanien
Manchmal kommt der Pfarrer nachmittags in die Bar, Alejandro, der für mehrere Dörfer zuständig ist. Er parkt den Wagen in der Garage gegenüber der Schule. Man nennt ihn hier die 113, weil er immer dann kommt, wenn die 112, der Krankenwagen, nicht rechtzeitig eingetroffen ist. Er erzählt, er sei kürzlich bei einer Verkehrskontrolle von der Guardia Civil angehalten worden, nachdem er in mehreren Dörfern den Gottesdienst gehalten hatte. Bevor er ins Röhrchen blies, sagte er: ‹Jetzt werden wir sehen, ob das mit der Wandlung funktioniert.›
Es macht schon Sinn, dass es so ist, wie es ist. Du kannst nicht irgendwohin kommen und verlangen, dass alles bitte schön so zu laufen hat, wie du es dir vorstellst oder wie es sich ein Philosoph 1977 in Paris vorgestellt hat. Auch der Philosoph ist das Produkt eines bestimmten Umfelds, eines Geflechts von interagierenden Einflüssen …Oder einfacher formuliert: Wer woanders hinkommt, sollte erst einmal zuhören, zusehen und Respekt zeigen, ehe er alles ändern will, was seit Jahrhunderten leidlich funktioniert.
Leeres Spanien von Sergio Del Molino
75 Prozent der spanischen Gesamtbevölkerung lebt in Großstädten und an der Küste. Das Landesinnere hinterlässt den Eindruck gähnender Leere. Wenige verstreute Dörfer. Geister-Dörfer – über 3000 Dörfer sind heute in Spanien komplett verlassen. Wie kam es zu dieser ungeheuren Landflucht? Was sind die Auswirkungen? Wann hat das begonnen? Oder war das schon immer so? Sergio Del Molino erzählt von einer urbanen Revolution, die unter der Industrialisierung im faschistischen Franco begann. Doch er blickt viel weiter zurück, beschreibt, wie verächtlich die Landbevölkerung von den Bürgern der Stadtbevölkerung schon immer gesehen wurde. Es geht in diesem erzählerischen Sachbuch nicht um Anklagen, auch nicht um Klagegesang, sondern um Offenlegung der Tatsachen und Ursachenforschung. Genau das macht es sympathisch. Wer Spanien verstehen möchte, kommt um dieses Buch nicht herum. Empfehlung!
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