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Der gute Sohn von Jeong Yu-jeong - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der gute Sohn 


von Jeong Yu-jeong


Der Anfang: Die Sonne brannte silbern. Ein Schweif Federwolken zog eilig über den Maihimmel.

Yu-jin wacht eines Morgens auf, er ist bekleidet, blutverschmiert. Im Untergeschoss findet er seine Mutter mit durchtrennter Kehle. Seine Erinnerungen an den letzten Abend sind wie ausgelöscht. Stück für Stück werden die Erinnerungen wach, immer wieder taucht der Leser in Yu-jin, in sein Leben ein. Ein extrem behütetes Kind, man erklärt ihm, er sei Epileptiker, da er an Anfällen leidet. Seine größte Leidenschaft ist das Schwimmen – hier ist er ein Ausnahmetalent – und er ist ein sehr guter Schüler. Doch die Medikamente hemmen seine Leistungsfähigkeit. Heimlich setzt er sie immer wieder ab – für das Schwimmen. Seine Mutter verbietet ihm den Sport, denn sollte er beim Training einen Anfall bekommen, könne er ertrinken. Die Angst ist groß. Der Vater und der Bruder von Yu-jin sind im Meer ertrunken. Viele Dinge sind schemenhaft, kommen nur bruchstückhaft in der Erinnerung zurück. Dem Leser ist schnell klar, dass die Diagnose nicht Epilepsie heißt, sondern dass Yu-jin unter psychotischen Schüben leidet, möglicherweise schizoide, denn in seinem Kopf streiten Team Blau und Team Weiß. Neben der Mutter überwacht Tante Hye-won, eine Ärztin, Yu-jin, die ihm auch die Medikamente verschreibt.

Ich war mir unsicher, ob diese wahnsinnige Kondition daran lag, dass ich keine Medikamente genommen hatte, oder ob es nur Zufall war. ... kostete ich diesen Wahnsinn bis zum Ende des Wettbewerbs aus. … Im Kraulen über 80 und 1500 Meter holte ich die Goldmedaille und genoss die Aufmerksamkeit als neuer Hoffnungsträger mit kometenhaftem Aufstieg.

Ermittler im eigenen Fall

Das Buch ist ein Kammerspiel, behandelt einen kurzen Zeitraum, minutiös wird hier eine Krankheit aufgeblättert, der Kranke selbst ist auf der Spur nach sich selbst, sozusagen der Ermittler im eigenen Fall. Im letzten Drittel findet Yu-jin das Tagebuch seiner Mutter, dass ihm auf der Spurensuche nützlich ist. Die Mutter wacht über den erwachsenen Sohn fast wie ein Leibwächter, und der Leser ahnt, die Mutter weiß weit mehr, als sie ihrem Sohn erklärt. Ein junger Mann, der zu Hause fast wie im Käfig gehalten wird. Kann das gut gehen?

Die ganze letzte Woche schien der Junge halb tot. Ich vermute, dass die Nebenwirkungen der Medikamente – Kopfschmerzen, Tinnitus und Erschöpfung – auf dem Höhepunkt sind.

Die Bestie Mensch

Es dauert nicht lange, bis Yu-jin den Mord an seiner Mutter aufgeklärt hat. Die Frage nach dem Warum zieht sich noch etwas hin und in dieser Zeit passieren Schlag auf Schlag eine Menge Dinge. Ein spannender Roman, der sich mit der Psyche, einer Psychose, beschäftigt, mit einem Psychopathen. Würde man die Außensicht über diesen jungen Mann lesen, so stünde das Urteil schnell fest: Monster! Doch diese Bestie ist ein Mensch, ein netter Kerl, sympathisch, sportlich erfolgreich, ein junger Mann, der soeben sein Jurastudium beendet hat. Ganz langsam blättert Jeong Yu-jeong in der Ich-Form die Psyche des Protagonisten auf, zeigt einen netten Kerl, der einem leidtut und sie zeigt auch gleichzeitig das Monster. Der Leser begreift zusammen mit Yu-jin, dass Dr. Jekyll auch gleichzeitig Mr. Hyde ist. Und das macht die Bestie menschlich. Interessant finde ich auch den Vertuschungsmechanismus der Mutter, der Tante – den Umgang mit psychischen Erkrankungen. Dem Jungen wird erzählt, er sei Epileptiker, das soll er niemandem verraten. Krank sein, ist schlimm genug. Aber psychisch krank? In unserer Familie gibt es keine Verrückten – so lautet die Reaktion doch in der Regel. Ganz davon ab, dass Epilepsie auch im Fachbuch der Psychiatrie angesiedelt ist, gehören  Psychosen in der Regel zu den Krankheiten, über die man nicht spricht. Die koreanische Autorin Jeong Yu-jeong hat hier ein gesellschaftliches Thema angerissen, über das auch hierzulande viel zu wenig gesprochen wird. Psychische Erkrankungen kann man nicht sehen, nicht messen, sie lauern versteckt im Untergrund, und kriechen sie heraus, stecken Betroffene und deren Angehörige sie gern in einen Sack, den sie am liebsten im Keller in einem Schrank einsperren wollen. Mit sehr viel Feingefühl und glaubhaft in ihrer Rolle als Protagonist, zeigt sie dem Leser das Innenleben dieses Menschen, der sich auf der Suche nach sich selbst begibt – nach dem Ungeheuer in sich selbst. Ein spannender Thriller!

Ein normaler Mensch lügt angeblich im Durchschnitt 18 Mal pro Stunde. Aufgrund meiner Schwäche in Sachen Ehrlichkeit müsste ich über dem Durchschnitt liegen. Darum bin ich dabei auch so geschickt und kann jede beliebige Geschichte glaubhaft erzählen.

Jeong wird oft als Koreas Stephen King bezeichnet. Sie hält wenig vom Kanon »echter Literatur«, sondern erzählt in ihren Thrillern herausfordernd und direkt von den Schattenseiten der Menschen. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester arbeitete Jeong Yu-jeong im Spital und dann als Sachverständige der staatlichen Gesundheitsversicherung. Mit ihrem ersten Roman »My Life’s Spring Camp«, gewann sie 2007 den Segye Youth Literary Award. Mit dem zweiten Roman »Shoot Me in the Heart« erhielt sie den Segye Ilbo Literary Award und fand erstmals einen größeren Leserkreis. Zwei Jahre später wurde sie mit »Sieben Jahre Nacht« zur Bestsellerautorin. Sie selbst bezeichnet sich als eine Trilogie über den freien Willen in einer Welt, die Fügung und Passivität erwartet. Die Jury des Segye Ilbo Award nannte sie eine Amazone in Koreas Literaturlandschaft und beschrieb ihre Stellung so: Nach den Romanen der letzten Jahrzehnte, welche die subtilen Emotionen, die Innenwelt gebrochener Zeitgenossen gestalten, beginnt mit Jeong Yu-jeongs direkter, kraftvoller Erzählweise eine neue Ära in der Literatur.


Jeong Yu-jeong 
Der gute Sohn
Thriller
Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Unionsverlag, 320 Seiten, Zürich 2019

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