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Der Ausbruch von Albertine Sarrazin - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Der Ausbruch 

von Albertine Sarrazin


Der Anfang: Ich bin bestens ausstaffiert, um heute Abend im Knast zu landen: Opossum und Hose. Das Tierfell bleibt bei der Durchsuchung hängen. Das es womöglich ein paar Sommer die Motten füttert – kein Problem, aber das es womöglich per Tauschhandel im Gauloiserauch aufgeht, dafür will keine Gefängnisverwaltung geradestehen.

Dieser Roman ist eine Neuauflage und Neuübersetzung von 1967. Albertine Sarrazin wird als Baby von einem französischen Militärarzt-Ehepaar adoptiert, mit zehn Jahren von einem Unbekannten vergewaltigt und mit 15 wird das schwer zu bändigende Mädchen von den Adoptiveltern in ein Erziehungsheim verfrachtet, aus dem sie abhaut. Ihre Mutter war wahrscheinlich eine 15-jährige Spanierin, der Vater ein Algerier. Erziehungsheime, Besserungsanstalten, Gefängnisse, ein Leben hinter Mauern, wo Albertine auch ihr Abitur absolviert. Mit Prostitution und Diebstahl finanziert sie ihren Lebensunterhalt. Als sie neunzehnjährig zu sieben Jahren Jugendgefängnis verurteilt wird, schafft sie es, über die Gefängnismauer abzuhauen, verletzt sich dabei den Fuß und findet zunächst bei einem netten Typ Unterschlupf. Später heiratete sie ihren Retter: Julien Sarrazin, ebenfalls ein entlaufener Häftling. Während er acht Ehejahre waren sie meist getrennt, da fast ausnahmslos einer von beiden oder beide parallel im Knast einsaßen. Hier schrieben sie sich heimlich Briefe (Kassiber). Albertine Sarrazin ist literaturbegeistert und schreibt gern. So entsteht im Gefängnis ihr erster Roman »L’Astragale«, danach »La Cavale« (Kassiber), der nun in Neuauflage unter dem Titel »Der Ausbruch« vorliegt. »La Cavale« hatte Albertine im Gefängnis in Schulhefte geschrieben, in winzigen Buchstaben, ohne Absatz, um viele Worte auf eine Seite zu bringen. Jede Woche schmuggelte sie einzelne Blätter zu ihrer Gefängnis - Psychiaterin, die das Talent erkennt und das Manuskript an den Verleger Pauvert nach Paris schickt. Pauvert, der unter anderem Schriften des Marquis de Sade druckte, meint dazu: »Heutzutage noch ein gutes Manuskript mit der Post zu erhalten, das ist wirklich rar.« »Der Astragal« wird ein Kultbuch und  ist über eine Million mal verkauft und in 16 Sprachen übersetzt worden. 
Eine große Unterstützerin von Albertine Sarrazin bei Pauvert war Simone de Beauvoir und auch Patty Smith war eine große Bewunderin ihrer Texte. Im Jahr 1966 wurde Albertine Sarrazin der Prix des Quatre Jurys verliehen. Und leider verstarb sie kurz danach,  endlich in Freiheit, bei einer Nierenoperation mit 29 Jahren. Man geht von einem Ärztepfusch aus.

Aber ich sehe hinter dem Rot vom Rauch das Rot der Schlaflosigkeit und der Tränen hervorscheinen; das Mädchen zieht so einen Flunsch, mit hängenden Mundwinkel, aufgerissenen Augen und bleichen Wangen, dass man noch kurzsichtiger sein müsste als ich, um nicht zu sehen, dass irgendetwas nicht stimmt.

Anick schreibt um am Leben zu bleiben

Weshalb das lange Vorwort? Der Roman spielt in Frauengefängnissen von Frankreich und Albertine Sarrazin schreibt unglaublich eindringlich, mit erzählerischer Kraft. Die Icherzählerin Anick Damien glaubt, sie habe keine Chance auf eine Minimalstrafe und plant einen Ausbruch, von Anfang an. Aber dazu wird es nie kommen. Anick muss an ihr Geld kommen, das der Richter beschlagnahmt hat, der Anwalt muss einen Trick finden und ihr Geld zukommen lassen. Die Mutter lässt mitteilen, sie steht ihr bei, seelisch, finanziell keineswegs, denn die Haft hat Anick sich selbst eingebrockt. Wozu braucht sie Geld? Für Zigaretten, Bonbons, Nes (Nescafé), denn die Gefängnisbrühe schmeckt nicht, auch das Essen kann man so aufpeppen, sich kleine Annehmlichkeiten kaufen, Papier, Stifte. Tägliche Tristesse, wechselndes Publikum, sich behaupten, andere stützen, durchhalten, zusammenhalten, wechselnde Insassen und Gefängnisse, der Tag ist lag, mal ziemlich kalt, mal zu heiß. Anick schreibt um am Leben zu bleiben, zu fühlen, zu denken. 

Dieser Knast bringt mir nichts. Ich mochte den anderen lieber, wo jeder Tag dem Tod geraubt war. Dieser ist nicht allzu unangenehm konstruiert, das Verhältnis von Dummheit und Gemeinheit ist normal; das Mobiliar, mobil oder nicht, so gut wie jedes andere. Aber ich habe Angst. Angst vor dieser Sauberkeit, vor der Stille, die die Schreie verbirgt, vor dem hellen Stein, aus dem Angst sickert, eine ständige konfuse Bedrohung; die Farblosigkeit meiner Tage überfällt mich, erfüllt mich, verstopft meine Poren, der gefahrlose, folgenlose Alltagstrott wiegt und verschaukelt mich.

Der Gedanke an Ausbruch hält wach

Schreiben macht frei, befreit Gedanken. Es ist erstaunlich, wie viel Kraft die Sprache von Albertine Sarrazin besitzt, wenn man auf ihren Lebensweg schaut. Aber vielleicht genau darum besitzt sie diese Intensität und Stärke. Der Ausbruch, der nie stattfindet und zum Schluss von Zizi, dem Ehemann verhindert wird, der Anick von einer Flucht abbringt, durchzieht den Roman. Dieser Gedanke hält wach, lässt nicht abstumpfen. Der Blick auf Möglichkeiten, durchspielen von Ideen, Hoffnung auf Freiheit. Anick wartet auf ihren Prozess, eine ziemlich lange Zeit vergeht, eine lange Haftzeit könnte bevorstehen, da wäre es besser zu fliehen. Wenn sie Glück hat, fällt die Strafe milde aus, eine Flucht wäre fatal. 

Muss auch die Hose ausziehen, das Tragen ist nicht gesund, erleichtert vielleicht das Auf-den-Stuhl-Klettern für die Blutabnahme, genannt Pflaumenbaum, würde allerdings die Einfuhr des Spekulums stören. Also wenn Sie in den nächsten Tagen mit Ihrer Verhaftung rechnen, haben Sie den Hintern immer nackt und einen Koffer mit Wäsche griffbereit.

Albertine Sarrazin ist mit 29 Jahren gestorben, leider. Was hätte aus ihrem Talent alles entstehen können ... »Engel mit gebrochenen Flügeln« (so Patti Smith über die Autorin in ihrem Nachwort über »Der Astragal«) Eine Sprache klar schnörkellos, Prosa, und an anderen Stellen bildhaft, fast poetisch. »Eine leere Minute saugt grenzenlose Ewigkeiten ein«, schreibt sie. Die Beschreibung der französischen Frauengefängnisse zur Zeit der Sechziger ist interessant. Gemütlich ist es hier nicht und der Einschluss in Zellen wohl recht selten. Frauen dicht zusammen, Solidarität, Freundschaft, aber auch Abneigung zu der ein oder anderen, solidarische Abneigung gegen eine. Hier brodelt es, beruhigt sich, man arrangiert sich, hilft sich gegenseitig. Wärterin, Mâme Chef, auch hier fühlt man Menschlichkeit. In jedem Gefängnis ist es ein wenig anders, neue Regeln, neue Mitgefangene. Innenwelt und Außenwelt auf Papier, eingesperrt in Mauern, Gedanken Raum geben, Gedanken bekommen Flügel, die Worte befreien. Der Roman ist klar biografisch und genau darum ist er so gut. Es geht hie rnicht um das große Ganze, Gesellschaftskritik, die Autorin beschäftigt sich ausschließlich mit sich selbst. Was bedeutet es, einzusitzen? Sarrazin definiert es so: »Halb vulgarisiert, halb benediktiert«

Ich bin Diebin gewesen, ich will Schriftstellerin werden. Jede andere Tätigkeit scheint mir indiskutabel, sagte Albertine Sarrazin 

Das Erstlingswerk L’Astragale wurde 1968 von Guy Casaril mit Marlène Jobert in der Hauptrolle und Horst Buchholz als Julien verfilmt. Eine neue Filmversion mit Leïla Bekhti und Reda Kateb in den Hauptrollen entstand im Jahr 2015 unter der Regie von Brigitte Sy. 





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