Direkt zum Hauptbereich

Das Nest von Katrine Engberg - Rezension


Rezension

von Sabine Ibing



Das Nest 


von Katrine Engberg


Das Meer schloss sich über seinem Kopf, er sank dem Grund entgegen, fort vom Licht der Oberfläche.


Ein intelligent konstruierter Krimi, spannend, sprachlich gut mit überraschendem Ende. Was will man mehr! An einem sonnigen Tag verschwindet der 15-jährige Oscar. Wurde der Sohn aus betuchter Familie entführt? Oder ist er schlicht abgehauen? Der Vater betreibt einen Kunsthandel und seine Schwester, selbst Künstlerin, verarbeitet Totenkulte in ihren Werken. Den Kopenhagener Ermittlern Anette Werner und Jeppe Kørner erscheint die Familie ein wenig schräg: Zu fünft schläft man gemeinsam in einem riesigen Familienbett. Gut, der älteste Sohn hat sich gerade dort ausgeklinkt – zu alt, wie er sagt. Kurz darauf wird durch Zufall eine junge, männliche Leiche in einer modernen Müllverbrennungsanlage entdeckt, die dort entsorgt werden sollte. Nur dumm für den Täter, dass der Greifer die Einwickelfolie gelöst hat. Ist es Oscar? Und zufälligerweise arbeitet der Vater von Oscars Freundin hier als Ingenieur. Zu viele Zufälle. Malthe Sæther, ein beliebter Lehrer gerät ins Visier der Ermittler – nicht lange ... Er kann nicht mehr sagen, was er gewusst hat.

Michael beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Der Schuh saß an irgendetwas fest. Als die Ladung sich direkt vor dem Fenster befand, fiel ein Arm aus dem Müll und baumelte leblos unter dem Greifer. In der selben Sekunde spuckte Kasper Skytte seinen Kaffee ans Fenster. Michael hämmerte auf den Alarmknopf.


Das Privatleben von Jeppe und Anette wird eingestreut. Jeppe in Beziehung mit einer Kollegin, die zwei Kinder hat, was die ganze Sache kompliziert. Anettes Mann versorgt zu Hause das Kleinkind, kocht wundervoll; aber irgendwie ist die Luft heraus aus dieser Ehe. Ganz nebenbei zeigt die Autorin verschiedene Modelle des Zusammenlebens. Es ist ein vielschichtiger Plot, denn die Müllverbrennungsanlage in ihrer Komplexität ist nur ein Thema, das angesprochen wird. Es geht auch um Kunst, um junge Lehrer, Erziehungsmethoden, Missbrauch – alles nur angestoßene Themen, die nicht zum Hauptthema werden, weil sie es auch nicht sind. Doch genau hier schafft es die Autorin, den Leser auf falsche Spuren zu schicken; clever gelöst, man fällt auf die eigenen Vorurteile herein. Verschiedene Handlungsstränge, die gekonnt verwoben sind, werden entwirrt, dann mit einem anderen Strang verknüpft, bis zum Ende alles aufgelöst ist; die Geschichte hat Hand und Fuß. Die Charaktere sind fein skizziert und man fühlt sich in Kopenhagen angekommen, ohne das Gefühl zu haben, ein Sightseeing zu machen. Schlicht ein Setting in Kopenhagen – denn irgendwo muss eine Handlung ja spielen. Die Ermittler sind Menschen wie du und ich, weder Superhelden, noch knurrige, versoffene Eigenbrötler, die im gefährlichen Alleingang unterwegs sind. Das war erfrischend. Eine Sprache die prägnant ist in Atmosphäre, in Beschreibungen – ich war drauf und dran das Fenster zu öffnen, als die Beteiligten in Schutzanzügen durch die Müllverbrennung stiefelten. Zarter Humor schwebt im Unterton, und die Autorin ist eine Meisterin der Zwischentöne: Angedachtes, Nichtgesagtes, ein Blick, eine Geste – und natürlich benötigt eine solche Autorin auch kein fließendes Blut – tote Menschen, ein Bericht über die Todesart. Katrine Engberg braucht nicht mehr, um Eiseskälte und Suspence zu schaffen, die sie an ganz anderen Stellen atmosphärisch einbringt. Meine Empfehlung.


Katrine Engberg, geboren 1975 in Kopenhagen, arbeitete für Fernsehen und Theater und war als
Tänzerin, Choreographin und Regisseurin landesweit bekannt, bevor sie in der Welt des skandinavischen Thrillers debütierte – mit großem Erfolg, auch international. Katrine Engberg lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen. Auszeichnungen: Dänischer «Martha Prisen» für Isola, 2021; eine von fünf offiziellen Kulturlotsen für Kopenhagen, ein Projekt der dänischen Botschaft und Wonderful Copenhagen, 2019;  Nominiert für den «Martha Prisen», Dänemark, 2018



Katrine Engberg
Das Nest
Originaltitel: Vådeskud 
Kopenhagen Serie, Band 4
Übersetzt aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Krimi, Kriminalliteratur, Polizeikrimi, dänische Literatur, Dänemark, Kopenhagen
Hardcover, 416 Seiten
Diogenes Verlag, 2021




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo