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Das größere Verbrechen von Anne Goldmann - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Das größere Verbrechen 

von Anne Goldmann



Der Anfang: Das Fenster steht Tag und Nacht offen. Ich brauche Luft.

Kriminell wird es hier; moralisch auf vielen Ebenen und natürlich auch polizeirelevant. Man fragt sich am Ende, welches war nun das größte Verbrechen und welches hat ein anderes ausgelöst?Wonach klingt das? Nach Familiendrama – gleich zwei, oder sagt man besser drei und auf eine gewisse Art und Weise ist alles miteinander verknüpft. Allzu viel will ich nicht verraten, denn der Roman ist spannend auf vielen Ebenen.

Alte Wunden brechen auf

Die Geschichte wird auf vielen Zeitebenen geführt, mit einer Menge Personal. Heute: Theres lebt in einer brüchigen Ehe zusammen mit Mann und Tochter Nina. Und plötzlich erhält sie einen Anruf:

Ich bin Jan‹ sagt eine Stimme, die Theres noch nie in ihrem Leben gehört hat. ›Dein Sohn.‹ Und: ›Ich möchte dich treffen.

Rückblick: Theres hatte das Kind mit 17 geboren, der Vater, ein Bosnier, ein Schüler, wie sie, auf und davon. Die Eltern hatten sie gedrängt, das Kind zur Adoption frei zu geben.

Wir werden gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und nebeneinander aufwachsen. Einander das Salz reichen. Es wird sich nichts ändern.

Wer lügt, wer betrügt, wer betrügt sich selbst?

In dieser Familientragödie geht es um Verdrängung, Erinnerungen, Lügen, Selbstbetrug, Betrug. Jan dringt im Sturm in die Familie von Theres ein - wird das die Ehe aushalten? Nina hat nun einen Bruder, wie wird sich diese neue Situation auswirken und wie reagiert die Adoptivfamilie, wie die Großeltern, die das Kind nicht haben wollten …

Eine paralleler Strang zieht sich durch das Buch: es geht um Ana, die bei dieser Familie als Putzfrau arbeitet, eine Bosnierin, und ein weiterer Strang handelt von einer älteren Dame aus Bosnien. Auch hier geht es ständig von heute zurück in die Erinnerung. Frauenschicksale, Sex, Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaften, verbotene Liebe, Betrug, Selbstverleugnung, sich etwas erarbeiten. – Verantwortung – Schande – an den Frauen bleibt alles hängen, auch in ihren Seelen: Wut, Verzweiflung, Scham, Ohnmacht, Trauer … Die Charaktere sind unglaublich gut gezeichnet in ihrer Tiefe, in ihrer Zerrissenheit.

Ich lebe hinter einer Wand. Ich weiß nicht mehr, was richtig ist. Ich schaue den anderen zu. Ich gehe. Ich renne weg. Zurück. Nach vorn. Ich mache alles falsch.

Anne Goldmanns Schreibstil hat eine eigene Handschrift 

Mir hat der Roman enorm gut gefallen, aber der Text ist sicher nichts für Schnellleser von einfach gestrickten Geschichten. Anne Goldmanns Schreibstil hat eine eigene Handschrift – speziell. Sie ist eine Meisterin des Subtextes, der Andeutung. Man muss konzentriert lesen, denn häufig wechselt sie nach einem Absatz die Szene, die Perspektive, spricht von sie oder ich, nicht immer erkennt der Leser sofort, welche Protagonistin spricht. Kurze Szenen und Dialoge, Ortswechsel, Zeitwechsel, Fragmente, die alles sagen, ohne es auszusprechen. Das macht Anne Goldmann meisterhaft. Es liest sich wie ein Film, der häufig die Szenen wechselt. Angesprochene Sätze, Gedanken, die eigen Gedanken im Kopf schwingen mit beim Lesen.

Weil es immer so war, dass er bestimmt, was geschieht. Weil man sich darauf verständigt hat, dass er es darf. Er hält es für normal. Weil keiner ihn daran hindert! Und das – das ist ein Verbrechen.


Verschiedene Generationen von Frauen, verschiedene Lebenswege, Schicksale. Wie hat sich die Welt
der Frau verändert, wie wirkt sich Erziehung aus? Vergessen, vergeben, weitermachen wie bisher, als sei nichts geschehen? Schuld, Sühne, Leiden … Auch die alte Frau Sudić, die selbst Unglaubliches im Bosnienkrieg mitgemacht hat, gesteht einen Mord: »Ein Mensch ist tot durch meine Schuld. Ich sitze hier und rede mit Ana. Ich esse und schlafe und schaue aus dem Fenster wie davor.« Ist man selbst Schuld an seinem Leiden, wenn stillhält, schweigt, sich alles gefallen lässt, Schuld, wenn man sich wehrt? Was ist das größte Verbrechen? Ich würde mich nicht wundern, wenn dieser Roman auf der Liste vom Glauserpreis stehen wird.





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