Rezension
von Sabine Ibing
Ambivalenz
von Amélie Nothomb
Der Anfang:
Er entzürnt sich nicht.
Das Wort ‹entzürnen›, das es nicht gibt, aber geben könnte, ist nur in seiner Verneinung vorstellbar. ‹Er entzürnt sich› wird man nie irgendwo lesen. Warum? Zorn ist kostbar, weil er vor Verzweiflung schützt.
Drei Stunden zuvor gab es keinen glücklicheren Mann als ihn.
Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen.
‹Wo willst du hin?›
‹Heiraten.›
‹Sehr komisch.›
‹Das ist kein Witz. In zwei Tagen heirate ich Jean-Louis.›
‹Was sagst du da?›
‹Ich heirate Jean-Louis. Du kennst ihn.›
‹Aber mich liebst du doch, mich! Und mich wirst du auch heiraten›
Sie erliegt seinem Charme
Kurz darauf wird die schüchterne Dominique von Claude in einem Café angesprochen. Er sei von ihr fasziniert, lädt sie zum Champagner ein. Er werde demnächst Geschäftsführer einer Firma in Paris. Zunächst will Dominique mit dem übergriffigen Typ nichts zu tun haben, doch sie kann seinem Charme und Chanel N° 5 nicht widerstehen; und kaum haben sie sich kennengelernt, sind sie verheiratet, ziehen nach Paris. Tochter Épicène ist ein aufgewecktes Mädchen, der ganze Stolz von Dominique. Denn Claude hat schnell das Interesse an beiden verloren. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit.
Der Vater ignoriert die Tochter
Er hasst mich seit meiner Geburt. Er ermordet mich nicht, weil es gesetzlich verboten ist. Aber er erfindet andere Methoden, mich zu töten.
Claude hatte sich so sehr auf dieses Kind gefreut. Doch seit das Mädchen auf der Welt ist, ignoriert er sie. Mutter und Tochter bilden in ihrer Einsamkeit eine Symbiose. Der geschäftliche und gesellschaftliche Aufstieg ist Clauds größtes Ziel. Klar, die Ohrfeige, die ihm Reine gab: Der andere hat mehr zu bieten. Ein humorvoller, tiefsinniger Roman mit einer klaren Sprache. Was zunächst sprachlich schlicht konstruiert scheint, entpuppt sich als ausgefeiltes Konstrukt. Ebenso der Plot. Man fragt sich, welcher Dämon Claude geritten hatte, als er sich sofort auf Dominique stürzt – und warum verlässt sie ihn nicht? Und warum ignoriert Claude stoisch seine Tochter? Das alles wird sich auflösen. Amélie Nothomb schreibt szenisch. Kleine bedeutende Szenen erfassen alles. Dann geht es in riesigen Schritten nach vorn, teilweise werden Jahre übergangen. Das Ende war mir etwas zu einfach gelöst, hier hätte ich mehr Grill erwartet, anstatt den Cut. Insgesamt ein guter Gesellschaftsroman, das kleine Buch mit 128 Seiten ist schnell durchgelesen. Eine Reduktion auf das Wesentliche. Gute Unterhaltung!
Amélie Nothomb, geboren 1967 in Kobe, Japan, hat ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines belgischen Diplomaten hauptsächlich in Fernost verbracht. In Frankreich stürmt sie mit jedem neuen Buch die Bestsellerlisten und erreicht Millionenauflagen. Ihre Romane erscheinen in über 40 Sprachen. Für «Mit Staunen und Zittern» erhielt sie den Grand Prix de l'Académie française, für «Premier Sang» den Prix Renaudot 2021. Amélie Nothomb lebt in Paris und Brüssel.
Amélie Nothomb
Ambivalenz
Originaltitel: Les prénoms épicènes, 2018
Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große
Zeitgenössische Literatur, Belgische Literatur
gebunden mit Schutzumschlag, 128 Seiten
Diogenes Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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