Direkt zum Hauptbereich

Als das Meer bebte von Rosanne Parry - Rezension

Rezension

Sabine Ibing



Als das Meer bebte 


von Rosanne Parry 


Der Anfang: 

Früh am Morgen, ehe der Wind des Tages erwacht, ehe das Schieben des Meeres sich in ein Ziehen verwandelt, gibt es nichts, das den Dunst stört, der über dem Wasser schwebt. Nichts außer mir.

Meine Familie schläft, alle nach oben gestiegen, um Atem zu holen am Ende einer ermüdenden Nacht, in der wir Lachse gesucht und nicht gefunden haben. Wir schwimmen Seite an Seite, ich schaukle in Rückenlage dicht unter der Oberfläche. Jeder Schlag meiner Flossen erzeugt einen Ring auf dem stillen Wasser. Die kleinen Wellen stupsen sanft gegen den Dunst. Er wirbelt auf und verzieht sich aus meinem Weg, als wenn ich etwas Riesiges wäre, eine steigende Flut oder ein Sturm.



Tauch mit mir ab in die Salische See, hinunter in die Lebenswelt einer Orca-Familie. Dies ist auf der einen Seite ein spannender Kinderroman, andererseits ein erzählendes Sachbuch. Denn in die Geschichte ist eine Menge Wissenswertes über Orcas und andere Wale eingeflochten. Das Orca-Mädchen Wega soll einmal die Wegfinderin ihrer Familie werden. Jeder in der Walfamilie erhält eine Aufgabe. Die Wegfinder müssen die Gruppe leiten, sie durch die Salische See zu den Futterstätten führen. Wega kennt alle Buchten und Landzungen ihres Meeresarms, weiß alles über Lachse und eine Menge über die Menschen und ihre Boote, die mit Lärm und Schmutz den Tieren im Meer Schaden zufügen. Die Orcas orientieren sich durch «Klicks» und hören; sie nutzen dazu spezielle Geräusche zur Orientierung (durch Schallwellen), haben eine ausgeprägte Kommunikation untereinander und gebrauchen sie als Waffe bei ihren Beutezügen. Orcas besitzen ein komplexes akustisches Vokabular. Wir erleben das Familienleben einer Schwertwalfamilie aus der Sicht der Wale. Nicht alle Orcas ernähren sich von Robben; diverse Gruppen sind spezialisiert – diese hier ist auf die Lachse angewiesen. 


Wir sind ein toller Anblick, wenn wir unterwegs sind. Eine Finne hinter der anderen schneidet durchs Wasser und erhebt sich wie eine Meereswelle, schnell, geschmeidig und stark. Haie verziehen sich ins Dunkel, wenn wir in Sicht kommen. Aale gleiten tiefer in ihre Höhlen. Möwen stieben auseinander. Seehunde schauen uns von ihren Ruheplätzen mit ihren großen Augen zu.



Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Walmädchens Wega und ihrem Bruder Deneb. Eine Geburt steht bevor, Wega freut sich auf ihre neue Schwester, doch die Familie ist verzweifelt, da sie nicht auf die erwarteten Lachse stoßen, die sie dringend als Nahrung brauchen. Orcas sind sehr soziale Tiere, teilen sogar die Nahrung miteinander, passen gegenseitig auf sich auf, leben im Familienverband. Als Wega sich ein wenig von der Familie entfernt hat, bricht plötzlich ein Seebeben aus, turmhohe Wellen rasen auf die Küste zu. Wega ruft alles ab, was die Großmutter ihr beigebracht hat, schwimmt um ihr Leben ... Wen wird sie wiederfinden? Und gibt es überhaupt noch Lachse? Haiattacken, Begegnungen mit anderen Walen, ein im Netz verfangener Wal, ungenießbares Essen, ein Seebeben, Menschen retten ... ein spannendes Tierabenteuer!


Was das Wasser berührt, berührt uns alle.


Gleichzeitig schafft Rosanne Parry empathisch dem Lesenden einen realistischen Zugang zu einer Schwertwalfamilie, ohne in Kitsch oder Märchen abzudriften. Erzählung und Sachinformation sind hervorragend verknüpft. Eine spannende Geschichte, bei der man ganz nebenbei eine Menge über Orcas, andere Wale und Meerestiere lernt, sich in die Tiere hineinversetzt und so etwas über ihre Probleme zu erfahren. Hunger durch Überfischung, verschmutzte Meere, Klimawandel, der Lärm der Schiffe schadet ihrem Orientierungssinn, Fischernetze, Verletzung durch Schiffe – die Jagd auf Orcas durch den Menschen. Aber etwas hat mich verwirrt: Bis ich verstanden habe, dass es hier zwei Perspektiven gibt, hat es gedauert – ich war anfangs ein paarmal desorientiert. Der Perspektivwechsel wird schwer deutlich. Und wenn ich mich als viellesende Erwachsene ständig fragen muss, wer erzählt hier gerade?, wird es für ein Kind weitaus kniffliger. Das hätte man durch Überschriften verdeutlichen können. Das Buch ist durchgehend von Lindsay Moore illustriert mit wundervollen (teilweise doppelseitigen) schwarz-weiß Tuscheillustrationen. Perfekt wird das Buch am Ende durch Informationen über verschiedene Wale, Lachse und andere Meeresbewohner, eine Beschreibung der Salischen See und deren Lebensbereiche ergänzt. Es gibt auch eine Zeichnung der Kopf-Organe der Orcas, bei dem die Funktionalität der Sprache erklärt wird. Der Coppenrath Verlag empfiehlt das Lesealter ab 9 Jahren. Das ist für mich passend. Ein klasse Kinderbuch, das ich unbedingt empfehle!



Während ich diese Geschichte schreibe, sind die Orcas vor der Westküste der USA und Kanadas, die diese Erzählung inspiriert haben, so bedroht wie nie zuvor. Ihre Zahl ist so niedrig wie fast noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Umweltverschmutzung und Schiffslärm haben diese wunderbaren Tiere an den Rand des Aussterbens gebracht. Und was noch erschreckender ist: Genau die Aspekte des Klimawandels und der Umweltverschmutzung, die den Orcas schaden, sind auch für Menschen gefährlich.


Rosanne Parry lebt mit ihrer Familie in einem alten Bauernhaus in Portland, Oregon, USA. Ihr Großvater wurde in Berlin geboren und emigrierte als Teenager nach Amerika. Rosanne Parry hat vier Kinder, manchmal auch einige Hühner und Kaninchen. Die mehrfach preisgekrönte Autorin schreibt ihre Bücher am liebsten in einem Baumhaus in ihrem verwilderten Garten.


Lindsay Moore ist eine Künstlerin und Autorin mit Wurzeln im Norden von Michigan. Sie studierte Meeresbiologie und bildende Kunst am Southampton College auf Long Island und Figurenzeichnen an der Art Students League of New York; und sie erwarb ihren Master of Science in medizinischer und wissenschaftlicher Illustration am Medical College of Georgia, jetzt Augusta University. Lindsay Moore lebt mit ihrer Familie in den Wäldern im Nordwesten von Ohio.



Rosanne Parry 
Als das Meer bebte
Originaltitel: A Wahl of the Wild 
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Uwe-Michael Gutzhahn 
Illustrationen: Lindsay Moore 
Kinderbuch, Tierabenteuer, erzählendes Sachbuch, Wale, Orca, Schwertwal, Salische See
Hardcover, 288 Seiten 
Coppenrath Verlag 
Empfohlenes Lesealter: ab 9 Jahren




Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...