Rezension
von Sabine Ibing
Winter Counts
von David Heska Wanbli Weiden
Der Anfang:
Ich lehnte mich auf dem Sitz meines alten Ford Pinto zurück und lauschte dem Lärm, der aus dem Depot drang, der einzigen Kneipe im gesamten Reservat. Während ich den Laden beobachtete, gingen etliche Native Americans und weiße Rancher hinein. Wie ich wusste, war Guv Yellowhawk mit seinen Kumpel bereits drinnen und kippte Biere und Schnäpse. Guv unterrichtete an der Reservatschule alle möglichen Ballsportarten. Den Gerüchten nach trat er seinen Schülern, Jungs wie Mädchen, dabei gelegentlich etwas zu nahe. Ich wollte abwarten, bis er volltrunken war, damit die Party richtig losgehen konnte.
David Heska Wanbli Weidens düsterer Reservat-Krimi legt das Setting südöstlich des Mount Rushmore von South Dakota ins Rosebud-Reservat der First Nations People. Eine Szene spielt am Monument, aber sie fängt die zerrissene, komplexe Identität von Virgil Wounded Horse ein, einem Protagonisten, der sich zwischen den Welten tingelt. Virgil ist so etwas wie ein Auftragsschläger im Namen der Gerechtigkeit innerhalb des Reservats. Die offizielle Stammespolizei darf Delikte, die im Reservat begangen werden, nicht strafrechtlich verfolgen, denn sie untersteht den Bundesbehörden, an die sie diese weiterleiten müssen. Die Bundespolizei interessiert sich meist aber nicht für das Reservat, außer es geht um Mord – selbst da schaut man großzügig weg. Dieses Gesetz basiert auf den Mord an Häuptling Spotted Tail in den 1880-er Jahren, bei dem der Mörder vom Stamm lediglich aus dem Reservat verbannt, nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die Weißen waren erbost, sprachen den Ureinwohnern den Intellekt ab, gerecht zu urteilen, und erließen ein Gesetz, das den Stämmen das Recht nahm, die eigenen Leute zu bestrafen. Solange eine Vergewaltigung auf dem Land der Ureinwohner stattfindet, Männer ihre Frauen und Kinder verprügeln, kümmert es keinen Bundespolizisten. In solchen Fällen engagiert man im Reservat Virgel, der dem Täter auf seine Weise klarmacht, was Gerechtigkeit ist.
Drogen im Reservat
Traurigkeit ist wie ein verlassenes Auto, das für immer auf einem Feld steht - es verändert sich im Laufe der Jahre ein wenig, aber es verschwindet nie. Man vergisst es vielleicht für eine Weile, aber es ist immer noch da und rostet vor sich hin, bis man es wieder bemerkt.
Virgel steht fest auf dem Boden der Realität, vergisst so seine Winter Counts, die Piktogramme des Kalendersystems der Lakota. Seine Winter Counts beinhalten nämlich schmerzhafte Erinnerungen des Verlusts: der Tod seiner Eltern und den seiner Schwester, die bei einem Verkehrsunfall starb. Virgil wurde dadurch der gesetzliche Vormund seines 14-jährigen Neffen Nathan, dessen Zukunft ihm am Herzen liegt. Virgel ist innerlich gespalten, glaubt an sein Volk und dessen Kultur, er ist aber skeptisch gegenüber dessen Spiritualität, den spirituellen Riten und Sitzungen. Bildung ist die Zukunft – über den mystischen Quatsch der Alten kann er nur lächeln. Bisher lief alles glatt mit Nathan. Doch als der wegen Drogenhandels verhaftet wird, bricht für Virgel eine Welt zusammen. Nathan behauptet steif und fest, er wisse nicht, wie die Drogen in seinen Schulspint gelangt sind. Virgil ist unsicher, ob er ihm glauben kann. Drogen sind ihm sowieso ein Dorn im Auge – und jetzt wird es persönlich. So folgt er mit Hilfe von Marie, seiner Exfreundin, einer Spur nach Denver, und sie stellen fest, dass schnell expandierende Drogenkartelle zwischen Mexikanern und einer Streetgang aus Denver bedrohliche Allianzen bilden. Auch scheinen innerhalb des Reservats Drogenhändler zu agieren; ganz vorneweg der Erzfeind von Virgel. So entschließt er sich, zu helfen, den Ring im Reservat zu zerschlagen und um Nathan zu schützen.
Mitgefühl, Großzügigkeit, Freundlichkeit und Vergebung
Ich wollte nie wieder aufstehen, mich nicht mit dem auseinandersetzen, was ich mit ziemlicher Sicherheit verloren hatte. Was ich schon verloren hatte, noch verlieren würde. Das Land der Lebenden war mir verschlossen. Ich war in eine andere Welt eingetreten, in der es keinen Trost gab, nur den Wind und die Kälte und das Eis. Winter Counts. Der Winter des Leidens hatte für mich begonnen, ihm hatte ich immer ausweichen wollen, doch nun war er mit all seiner Grausamkeit über mich hereingebrochen.
Marie steht ihm zur Seite und ihre alte Beziehung scheint nicht ganz beendet zu sein. Sie hat ein eigenes Problem; denn sie wird in der Verwaltung des Reservats von einer Kollegin gemobbt, die viel Macht und Beziehungen hat. Sämtliche Ideen Maries zur Verbesserung der Ernährung im Reservat werden boykottiert. Es ist an sich ein ruhiger Thriller, der von Verrat und Schmerz getragen wird, aber ebenso eine actiongeladene Geschichte voller Verbrechen – Kämpfe, Vergeltung oder Patt-Situationen? Gewalt hilft nicht immer weiter. Virgel ist ein Charakter, der sein Leben mit Humor und Sarkasmus nimmt – anders wäre es nicht auszuhalten. Es gibt herrliche Dialoge, wie diesen, als Virgel nach einer Person sucht, in einem Laden die weiße Verkäuferin mit Dreadlocks fragt: «Haben Sie hier jemals einen Kerl gesehen ... lange schwarze Haare? Ein indianischer Typ?» Antwort: «Ich glaube, Sie meinen einen amerikanischen Ureinwohner.» Vergebung, eine wichtige Geste – etwas, an das Virgil von Marie erinnert wird. «Sie hatten mir beigebracht, dass die größte Ehre, die größte Tapferkeit darin bestand, dass ein Krieger seinen Feind in Ruhe ließ ...» Wacantognaka, einer der sieben Lakota-Werte: Mitgefühl, Großzügigkeit, Freundlichkeit und Vergebung. Wie viel ist dran an spirituellen Sitzungen? Virgel wird es herausfinden müssen.
Ein spannender Krimi, ein Gesellschaftsroman mit einem Schuss Myst der Lakota
Danach hüllten sie ihn in ein Sternen-Quilt und wickelten sieben Seile darum, vom Hals bis zu den Fußknöcheln. In jeden Knoten steckte Rocky einen Zweig Salbei. Nachdem sie Jerome gefesselt hatten, legten sie ihn vor dem Altar auf den Boden. Die Tischlampen wurden ausgeknipst, und uns umfing völlige Dunkelheit. Wieder setzten die Trommeln ein, und die Sänger stimmten mit ein.
Der Verrat an den amerikanischen Ureinwohnern und die aktuelle Frage nach ihrer Identität stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Ein Krimi und ebenso ein Gesellschaftsroman, denn Weiden berichtet ein wenig über die Geschichte der Lakota, über das Unrecht, das man ihnen angetan hat – das bis heute anhält. Ein wenig Myst fließt mit ein. Der Autor wuchs im Rosebud-Reservat auf, schildert das heutige Leben dort, das den Lesenden bis ins Mark trifft. Es geht ebenso um Korruption in den Reservaten, um das Verhältnis zwischen den Ureinwohnern und der Bundespolizei. Die daraus entstehende faktische Gesetzlosigkeit hinterfragt der Autor. Denn im Nachwort bestätigt er, dass diese Aufragsschläger existieren. Die Bundespolizei interessiert sich heute nicht mal für Morde, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung usw. in den Reservaten – selbst wenn die Täter bereits festgesetzt sind und die Tat gut dokumentiert ist. Ein Leben in Armut mit schlechter Bildung und minderwertiger Nahrung, nicht anerkannt zu sein von der amerikanischen Gesellschaft offenbart sich in diesem Gesellschaftsbild. So muss gute Kriminalliteratur sein! Den Finger in die gesellschaftliche Wunde legen. Ein hochwertiger Kriminalroman ist niemals nur Crime, sondern er befasst sich mit einem wichtigen Thema der Zeit, die Crimestory dient nur diesem Zweck. Ein spannender Krimi, ein Gesellschaftsroman mit einem Schuss Myst der Lakota. Empfehlung! Gern mehr davon!
David Heska Wanbli Weiden ist ein eingeschriebener Bürger der Sicangu Lakota Nation und erhielt seinen MFA vom Institute of American Indian Arts. Er ist ein MacDowell Colony Fellow, ein Tin House Scholar und der Empfänger des PEN America Writing for Justice Fellowship. Als Anwalt und Professor lebt er mit seiner Familie in Denver, Colorado.
Winter Counts
Originaltitel: Winter Counts
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Harriet Fricke
Mit einem Nachwort von James Anderson, 2021, übersetzt von Sven Koch
Mit einem Essay von Thomas Jeier, 2021
Krimi, Gesellschaftsroman, Myst, Lakota, amerikanische Literatur, Rosebud-Reservat, First Nations People
Klappenbroschur, 464 Seiten
Polar Verlag, 2022
Weiterführende Literatur:
«Wir wurden nicht in Kanada geboren, sondern Kanada wurde auf unserem Land geboren.», etwas, was der sogenannte Kanadier gern vergisst. Ab dem späten 15. Jahrhundert erreichten Europäer das heutige Gebiet des Staates, lebten friedlich in Gemeinschaft mit den Urvölkern zusammen, denn ohne Hilfe der Ureinwohner hätten die Siedler nicht überleben können. Später wurden sie mit den «Indian Act» entrechtet. Heute leben in Kanada noch viele First Nations, Métis und Inuit: «auf dem kanadischen Territorium 634 vom Staat anerkannte indianische ‹Stammesgemeinschaften›, die offiziell als First Nations bezeichnet werden und die etwa 3000 Reservate besitzen.» Die Völker werden von der restlichen Bevölkerung und von der Regierung kaum wahrgenommen, bzw. ignoriert. In diesem Sachbuch berichten sie über sich und ihre Geschichte. Empfehlung!
Weiter zur Rezension: Unter dem Nordlicht von Manuel Menrath
Krimis und Thriller - eigentlich ein kunterbuntes Genre
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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