Rezension
von Sabine Ibing
Vierunddreißigster September
von Angelika Klüssendorf
Sie hörte Walter rufen: Hilde, hast du meine Handschuhe gesehen?
Obwohl sie sich nach über vierzig Ehejahren noch nicht daran gewöhnt hatte, dass er sie fragte, wo etwas lag – manchmal direkt vor seinen Augen –, blieb sie gleichmütig.
Ein Dorfroman, Trostlosigkeit in einem Kaff in der brandenburgischen Provinz. Abgehängt, desillusioniert, schräge Dorfbewohner – in einem zweiten Stang beobachten die Toten das Dorfgeschehen, suchen die Nähe zu ihren Angehörigen, die sie nicht wahrnehmen. Hilde haut in der Silvesternacht ihrem Mann Walter eine Axt auf den Kopf. «Er machte sie klein, entwertete und erniedrigte sie.» Einst war er ein zorniger Mann, er bestimmte Hildes Leben. Durch einen Gehirntumor wandelt sich plötzlich sein Wesen, er wird sanft und aufmerksam – aber es gibt immer mehr Aussetzer. Nach der Tat geht sie zur Silvesterfeier der Nachbarn, wo sich das halbe Dorf eingefunden hat. Hilde hat gute Laune, tanzt, geht irgendwann hinaus in die Nacht und ist seitdem verschwunden.
In der Nachmittagshitze sehe ich einen Jungen aus der Stadt an den mit Weizen überwachsenen Bahngleisen sitzen, umgeben vom Summen und Zirpen der Insekten, und für die Dauer eines Flügelschlags durchzuckt ihn das Bewusstsein der Sterblichkeit. Wer ist der Junge? Warum habe ich für ihn ein Mitgefühl, aber keines für mich?
Panoptikum auf dem Friedhof
Auf dem Friedhof versammeln sich die Toten und studieren die Lebenden. Walter will das Schicksal der Bewohner als Chronist festzuhalten. Und er fragt sich, was Hilde zu dieser Tat trieb. Handelte sie aus Hass oder aus Barmherzigkeit? Hatte sie ihn jemals geliebt? Er fragt die anderen Toten, was an ihm abscheulich gewesen sein könnte. Seine Wut – aber so war er nicht immer. Wann hatte er angefangen, sich zu einem zornigen Mann zu wandeln?
Die Erde macht weiter, sie braucht uns nicht. Die Menschheit ist nichts weiter als eine Episode auf diesem Planeten.
Eine skurrile Dorfgemeinschaft
Angelika Klüssendorf ist Meisterin in der Prägnanz. Hier sitzt jeder Satz – insbesondere die unsichtbaren Zeilen, das Ausgesparte. Und in diesem Roman beweist sie einen tiefgründigen schwarzen Humor, der sich über das Elend legt. Nüchtern und distanziert betrachten die Lebenden und Toten das Dorfgeschehen, beschrieben in profunden Porträts: Röschen wohnt im Wald, 97 Jahre alt, sie wartet noch immer auf die Rückkehr ihres Sohns aus dem Krieg – Norbert ist der tote Sohn, der zur Friedhofsgemeinschaft gehört. Walter, einst Wendeverlierer mutierte nach dem Mauerfall zum Tyrannen; seine Nachbarin, ist Schriftstellerin, bei der irgendwann der Trommler einzog; Wolfgang, der verzweifelte Bio-Bauer wandelt sich zum heimlichen Dorfsheriff; «Bipolarchen», der hin und wieder austickt; das «Rollschuhmädchen»; Heinrich, den man «Schlucki» nennt, der arbeitslose Säufer ist Einsatzleiter der Freiwilligen Feuerwehr, der einen Brand im Delirium verschläft; der bekiffte Leo baut Haschisch an; Eisenalex wohnt in dem halb verfallenen Haus seiner verstorbenen Mutter, sucht mit dem Metalldetektor nach Gold. Doris, die Ortsvorsteherin, hängt verdrossen DDR-Zeiten nach. Ihr verstorbener Mann war ein Kaderleiter; ein Wessipaar, das ein altes Herrenhaus kaufte und restauriert, lässt sich außerhalb der Mauern nie blicken; die dicke Hubert passt kaum durch eine Tür; sie ist fresssüchtig – Spielberg hast ihr geschrieben, dass er das Leben ihres Großvaters verfilmen will. Ihr Sohn sitzt im Rollstuhl. Der schöne Karl (ein Toter), schleicht eifersüchtig auf Schritt und Tritt seiner Witwe, der Wirtin Blanka, hinterher – er verstarb beim Orgasmus, trägt nun als Toter eine Dauererektion vor sich her. «Nun weiß ich endlich, was die Hölle ist – in dem Dorf, das man verlassen wollte, begraben zu sein.» Selbst die Toten wollen hier weg! Frustration umgewandelt in Wut, Sucht oder Depression schwingen in allen Charakteren mit, ein Blick in existenzielle Abgründe – eine zerbrochene Dorfgemeinschaft; die Verbliebenen sind Kranke, Säufer, einsame und verbitterte Menschen, ein Sammelsurium von enttäuschten Hoffnungen vom Leben.
Wir könnten was erfinden, überlegt Eisenalex, einen neuen Tag zum Beispiel. Wie wäre es mit dem vierunddreißigsten September?
Warum vierunddreißig, fragt Leo, und sein Kiefer knackt beim Gähnen.
Meine Glückszahl. Was machen wir an dem Tag? Alles anders.
Und was?
Wir probieren Sachen aus, wie … wie was? ...
Warum wird man überhaupt geboren, fragt er. Für welche Idee würdest Du sterben? Eisenalex zuckt die Achseln.
Ausgefeilte Sprache
Ich mag die Romane von Angelika Klüssendorf, ihre ausgefeilte Sprache. Mit diesem Werk hadere ich ein wenig. Sprachlich wie immer ein Meisterwerk. Walters Beobachtungen halten hier alles zusammen. Trotzdem wirkt der Roman wie eine Ansammlung von Kurzgeschichten, Kurzportrais. Skurrile Gestalten, schwarzer Humor, bis kurz hinter die Mitte war ich begeistert, doch dann machte sich ein Gefühl von Wiederholung und ein wenig Langeweile breit. Mir fehlte die kunstvolle Ausarbeitung der Figuren aus ihren anderen Geschichten, die Tiefgründigkeit. Wer eine geringe Chance hat, verlässt dieses Dorf, zurück bleibt ein trostloser Haufen. Der ein oder andere wird der Trostlosigkeit ein Ende machen – aber weiß ja leider nicht, was ihn drüben erwarten wird. Ist es wirklich so? Was aus Hilde geworden ist, erfahren wir nicht – aber Walter findet einen kleinen Hinweis: Ihr geht es gut.
Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Roman-Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später», deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet.
Vierunddreißigster September
Zeitgenössische Literatur, Dorfroman
Gebunden, 224 Seiten
Piper, 2021
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Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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