Direkt zum Hauptbereich

Jahre später von Angelika Klüssendorf - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Jahre später von Angelika Klüssendorf


Der erste Satz: Trotz ihrer Unruhe fällt ihr der Mann auf, der sich einige Stuhlreihen vor ihr umgedreht hat und sie anstarrt, er beschirmt sogar die Augen mit der Hand.

Die junge Autorin April wird auf einer Lesung von einem älteren Mann angestarrt, übergriffig angemacht. Es ist Ludwig, ein bekannter Chirurg. Der charismatische Mann lockt April: »Herr im Himmel, sagt Ludwig, Beckett sei auch sein Liebling, er habe ihn erst kürzlich besucht und könne, wann immer April wolle, ein Treffen für sie arrangieren«. Der penetrante Ludwig lässt sich nicht abwimmeln, manipuliert, wo er nur kann, überschüttet April mit seiner Liebe. Unendliche Liebe, der starke Mann, der sie beschützen will, April ist angezogen von seinem Ego. April heiratet Ludwig und sie bekommen ein Kind, ziehen in eine Hamburger Protzvilla. Doch diese Beziehung ist ein Vulkan. Zwei Individualisten, die ihren Weg gehen, nicht zusammenpassen, zwei Magnete, die sich anziehen, nicht loslassen können: eine zerstörerische Liebe. April, die Schriftstellerin, völlig in sich gekehrt, depressiv, the lonesome woolf, bezeichnet sich als »hässlich und heimatlos«, »der eigene Erfolg macht sie misstrauisch«, »sie spürt weder Freude noch Stolz«. Dagegen seine Wichtigkeit Ludwig, der Partylöwe, der geniale Chirurg, der sich selbst überschätzt, jeden versucht, zu manipulieren, und jeden mit Kraft niedertrampelt, der auch nur kritische Gedanken gegen ihn hegen könnte.

Das Ego breitet sich immer weiter aus

»April ist gerührt, mit welch kindlicher Verve er sich seine Stimulanzien aussucht; schreibt er an einem Vortrag über die Hypochondrie von Winston Churchill, trinkt er Whisky und versucht sich an einer Zigarre. Er trinkt auch Kräutertee, wenn es sein muss, verteilt Räucherstäbchen in seinem Zimmer, verspürt Lust auf ein Reisgericht, weil sein Protagonist es liebt. Er weckt sie mitten in der Nacht und liest ihr den fertigen Text vor. Sie weiß nicht, ob ihm ihre Meinung wichtig ist oder ob er sie als Publikum braucht.«

Ludwig steigt auf zum Chefarzt, wird immer reicher und er protzt auch gern mit dem, was er hat, erwartet von jedem um sich herum täglichen Applaus. April ist völlig abhängig von ihm. Ein Mann, bei dem man den Schalter zum Abstellen sucht, der nach langem OP-Tag nach Hause kommt, sich nicht ausruht oder schläft, stattdessen Horrorfilme anschaut oder Ballerspiele am PC spielt, sich dabei literweise Cola mit Schuss einpfeift.
Immer wieder überlegt April, ihren Mann zu verlassen, fragt sich, ob sie ihn liebt, je geliebt hat. Aber sie braucht Ludwig, der sie unendlich liebt, sie immer wieder aus ihren Tiefen herauszieht. Doch irgendwann ist sie ihn Leid, seine narzisstische Natur. Nun setzt die Angst ein. Sie trennt sich von ihrem Mann und ein Rosenkrieg beginnt.

»Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt.« ... »Was Ludwig seinen Feinden antut, kann er auch seinen Freunden antun, er muss sie nur zu seinen Feinden erklären.«

Ein Schlüsselroman -  Ehe von Angelika Klüssendorf und Frank Schirrmacher?

Einige Stimmen behaupten, dies sei ein Schlüsselroman, eine Aufarbeitung der Ehe von Angelika Klüssendorf und Frank Schirrmacher. Sie war die erste Ehefrau des 2014 verstorbenen »FAZ«-Herausgebers und sie haben einen gemeinsamen Sohn. Und dieser Roman setzt mit der Hauptfigur April die autobiografische Geschichte der Autorin fort. Vorangegangen »Das Mädchen« (2011) und »April« (2014), Angelika Klüssendorf hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass diese Romane autobiografischen Background besitzen. Insofern kann man darauf schließen, dass es sich bei dieser Fortsetzung um die Ehejahre mit Frank Schirrmacher handelt.

 Berührend-beinhart geschrieben

»Die Tage haben keine Farben. Ihre Atemzüge fühlen sich bleiern an.«

Eine Frau, die eine lieblose Kindheit erlebte: Ein Vater, der eher dem Alkohol zugänglich war, eine gewalttätige Mutter, das machte aus April eine Selbstzweiflerin, intensiv beschrieben in den vorangegangenen Romanen. Angelika Klüssendorf schreibt komprimiert, nüchtern, immer auf den Punkt getroffen. Ihre klare Sprache der Essenz bewegt den Leser tief. Man möchte ihr von der ersten Seite an zurufen: Verbrenne dich nicht, dreh dich um und geh! Für mich ein hervorragender Roman, der in 157 Seiten berührend-beinhart und so erfassbare Bilder schafft, die 900 Seiten ausfüllen könnten.


»Doch die Kluft zwischen dem, was sie kann, und dem, was sie will, scheint ihr unüberwindbar.«

Angelika Klüssendorf ist 1958 in Ahrensburg geboren. Bis 1985 lebt sie in Leipzig, heute in der Nähe von Berlin. »Lebensprall und traurig, unsentimental und präzise, mit großer Lakonie: Ein Meisterwerk«, so die Jury des Deutschen Buchpreises 2014 über Angelika Klüssendorfs »April« – der Roman stand auf der Longlist und mit diesem Roman »Jahre später« war sie ebenfalls für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert.



Lesung Angelika Klüssendorf  »Jahre später«



Angelika Klüssendorf 
Jahre später
Zeitgenössische Literatur
Gebunden, 160 Seiten
Kiepenheuer&Witsch




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder