Direkt zum Hauptbereich

Unten von Maja Ilisch - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Unten 


von Maja Ilisch

 
Alles, was Spaß macht, ist verboten: Rennen, fangen Spielen im Flur, laut sein … Nevo und ihre Freundin Juma wohnen in einem großen Haus mit vielen Etagen. Wie viel, das wissen sie nicht, denn sie benutzen nur ihre Wohnetage und die Schuletage. Noch nie in ihrem Leben haben sie das Haus verlassen – ihre Mütter auch nicht. Väter existieren nicht. Nevo muss sich an die Regeln halten, sonst verliert ihre Mutter noch die Wohnung und sie müssten nach unten ziehen, und unten wohnen die Schmutzigen, die Widerlichen. Die Hausverwaltung sorgt dafür, dass alles seine Ordnung hat. Doch dann fällt Nevos Freundin Juma beim Spielen in den Wäscheschacht und ist wie vom Erdboden verschluckt. 


Im Treppenhaus weiter hinab


Aber eingeschlossen wäre ich ja nur, wenn ich gehen wollte.

Noch merkwürdiger erscheint es Nevo, dass die Erwachsenen tun so, als hätte es Juma nie gegeben. Juma? Wer soll das sein? Ihre Mutter, Jumas Mutter, die Lehrerin … selbst die Klasse schweigt. Und da ist Miu, die Tochter von Jumas Mutter. Bitte, wer ist Miu?, fragt sich Nevo. Angeblich war die schon immer da und sie ist Nevos beste Freundin. So ein Quatsch! Sie kennt diese Miu nicht! Drehen denn hier alle am Rad? Nevo ist zwar daran gewöhnt, auf Fragen keine Antworten zu bekommen, aber das geht zu weit. Sie macht sich auf den Weg durchs Haus, um Juma wiederzufinden. Ab in den Wäschetunnel … und sie landet nach einer langen Rutschpartie in der Wäscherei, kommt ins Treppenhaus, steigt immer weiter hinab und trifft auf die Schmutzigen, mit denen man nicht spricht.


Ein diktiertes Leben


‹Die Hausordnung›, fuhr Mat fort, ‹sagt nichts über Personen, die im Treppenhaus leben.› Er lachte. «Ich bin kein Bewohner. Und darum gilt die ganze Hausordnung nicht für mich. Oder dich.›

Eine Dystopie für Kinder. Es gibt einen kleinen Satz, der besagt, dass es einmal eine Zeit gab, als man noch hinausgehen durfte. Hier bleibt Spielraum für die Fantasie, was passiert sein mag. Familienstrukturen sind aufgelöst, Frauen wohnen zusammen mit ihren Kindern. Männer gibt es auch, sie treten als Wachmänner in den Fluren in Erscheinung. Ausflüge in andere Abschnitte des Hauses sind streng untersagt. Nevos und Junas Mütter arbeiten – was sie tun, ist nicht definiert. Ja, und wer ist eigentlich die Hausverwaltung? Spielen Kinder auf dem Gang, werden sie sofort durch die Lautsprecher ermahnt, die Wachmänner rücken aus. Werden sie überwacht?, fragen die Freundinnen sich. Garantiert, aber nur wie? Nevo trifft auf ihrem Gang auf einen sehr alten Mann, der sagt: «Fragen, was außerhalb des Hauses liegt. Und mein ganzes Leben lang habe ich überlegt, mich einmal auf den Weg zu machen. Nach unten. Nach draußen. In die ganze Welt, die wir von hier aus nur erahnen können.» Aber er hat sich nie getraut. Wer hat die Hausordnung geschrieben? Die Freundinnen wohnen auf Wohnetage – Zinnober Vier. Mehrere Etagen gehören zu einem Farbabschnitt. Gelb ist ganz unten und schmutzig, nach oben hin wird es blau. Ein Gesellschaftssystem, das nach oben besser wird, nach unten steigt man ab – der gesellschaftliche Abstieg. Wer gegen die Regeln verstößt, steigt ab, Eltern haften für ihre Kinder. Aber viele Regeln sind absurd, nicht rational, niemand mit klarem Verstand würde so etwas erfinden. «Seit Generationen hat niemand das Gebäude verlassen.» Die Bewohner sind zufrieden, hinterfragen das System nicht. Ein diktiertes Leben. Türen werden automatisch hinter ihenen abgeschlossen (Klassenzimmer, Arbeitsplatz …). Es ist, wie es ist und das ist gut.


Viele Fragen bleiben offen


‹Oder›, flüsterte Mat ganz nah an ihrem Ohr … ‹es gibt überhaupt gar keine Hausverwaltung. Sie wollen nur, dass alle das denken. Damit die Leute Angst haben.›
‹Wer sind sie?›, fragte Nevo und fragte sich, warum sie jetzt plötzlich auch flüsterte.
‹Na, die Hausverwaltung›, antwortete Mat.

An einer Stelle fragt sich Nevo, woher eigentlich die Lebensmittel kommen, die Milch in Tüten, die Tomaten in Dosen, die Nudeln? Die Frage nach der Versorgung und dem, was draußen wohl sein mag, wird nicht beantwortet – das bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. Nevo bricht alle Regeln der Hausverwaltung – man muss sich nur trauen, um zu verstehen, was dahinter steht. Ein elfjähriges Kind schert sich nicht um Regeln, es will Antworten. Und Nevo ist Juna wichtig: Wo ist ihre Freundin? Veränderung entsteht nur durch Regelbruch, so die Message. Es gibt einen Hinweis auf KI – die vielleicht die Hausordnung erschaffen hat; denn sie ist veränderbar. Ich will nicht zu viel verraten. An dieser Stelle hat es sich Maja Ilisch für meine Begriffe zu einfach gemacht … Es ist ein Kinderbuch, doch für eine Heldenreise braucht es Felsbrocken und Steine, die dem Helden in den Weg gelegt werden. Hier gab es nur Kieselsteine und Sandkörner. Der Kosmos ist dieses riesige Haus. Es gibt kein Draußen, keine anderen Menschen, keine anderen Häuser, eine Stadt, ein Land, die Welt. Auf der einen Seite fand ich den Kinderroman recht gut, auf der anderen Seite, war mir Nevos Weg schlicht zu einfach. Fragen offen zu lassen ist gut, um der Fantasie Raum zu geben, aber hier eröffnet sich ein ganzes Lexikon voller Fragen. Too much! Der Dressler Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahren. Das passt für mich, allerdings mit dem Zusatz, dass mir dieses Kinderbuch immer wieder zu viele Längen hatte, insbesondere für diese Altersgruppe. Die Geschichte zieht sich in Beschreibungen, dafür fehlen die Actionszenen, die für Utopien typisch sind. Ein guter Ansatz, für mich im Gesamtkonzept nicht vollauf zufriedenstellend.


Maja Ilisch, geb. 1975 in Dortmund, studierte Öffentliches Bibliothekswesen an der FH Köln und absolvierte im Anschluss daran eine Ausbildung zur Fachbuchhändlerin. Nach mehreren Stationen in Buchhandel, Verlags- und Bibliothekswesen arbeitet sie nun als freie Autorin. Neben dem Schreiben betreibt sie das Fantasy-Autor:innenforum Tintenzirkel. Maja Ilisch lebt mit ihrem Mann bei Aachen in einem alten Haus, in dem es nur vielleicht spukt.




Maja Ilisch
Unten
Kinderroman, Kinderbuch, Dystopie, Kinder- und Jugendliteratur
Hardcover, 304 Seiten
Dressler Verlag / Oettinger
Altersempfehlung: ab 10 Jahren






Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Yrsa von Alexandra Bröhm

  Journey of Fate (Yrsa. Eine Wikingerin 1)  Yrsa ist eine junge Wikingerin , die sich nach dem Tod der alleinerziehenden Mutter seit vier Jahren allein um ihrem Bruder Sjalfi kümmert. Als sie eines Tages von der Jagd nach Hause kommt, ist Sjalfi verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche und den gefährlichen Weg nach Haithabu . Denn es heißt, es würden Kinder entführt und versklavt. Unterwegs lernt sie Krieger kennen. Ihr Traum war immer schon, eine Kämpferin zu werden. Der Krieger Avidh hat es ihr besonders angetan. Ich würde den Roman ins Genre Young Adult einordnen. Wer softe Literatur, einen Liebesroman zur Entspannung mag, liegt hier richtig.  Weiter zur Rezension:    Yrsa von Alexandra Bröhm

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher