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Träume aus Beton von Kiko Amat - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Träume aus Beton 


von Kiko Amat


Vielleicht ist die Anormalität am Ende doch der Weg der Vernunft. Glaubst du nicht auch? Wir leben in einer vom Zufall regierten Welt, umgeben von einem Vakuum. Grausamkeit und Gewalt sind die Regel. Eine Welt, in der nichts von Bedeutung ist und in der die Unschuldigen zermalmt werden. In einer solchen Welt kannst du nur saufen oder verrückt werden. Ich habe es mit Ersterem versucht. Als das nicht mehr half, kam Zweiteres.


Der Roman schildert die Lebensgeschichte von Curro Abad, der wegen einer Messerattacke seit mehr als zwanzig Jahren in der Psychiatrie untergebracht ist. Mit einer Gruppe gleichgesinnter plant er den Ausbruch aus der «Irrenanstalt», wie er sie selbst bezeichnet. Curro, der aus der Unterschicht stammt, ist bereits seit seiner Kindheit psychisch auffällig: schizophren, bipolar, Tourtet-Syndrom, man diagnostiziert so einiges bei ihm. Er hat z.B. einen Hitler-Tick, ruft ständig «Heil!» und hebt dabei seinen Arm; beim Karneval erscheint er mit einer Hakenkreuz-Armbinde. Zwei wechselnde Erzählstränge tragen das Buch, den jungen Curro und den alten: Das Jetzt und die Vergangenheit.


Eine Kindheit unter Gewalt


Er ist nach Sant Boi zurück mit einem Loch im Hintern und einem durch posttraumatischen Stress verursachten Stottern. Den Hintern haben sie ihm in einem Feldlazarett operiert, dem Ärmsten, und zwar während ringsherum die Bomben der Legión Cóndor runterkrachten. Die Bomben seiner eigenen Armee! Von der Taubheit hat er sich zwar wieder erholt, aber nach diesem Ereignis litt er unter Wahnvorstellungen.


Auf der zweiten Erzählebene blicken wir in Curros Kindheit zurück, ein klassischer Außenseiter mit smarter Weltsicht, dem seine dysfunktionale Familie zu dem gemacht hat, was er ist. In seiner Familie gibt es einige vorbelastete psychische Erkrankungen. Sein Großvater, der nachts schrecklich brüllte, war durch den Guerra Civil als Soldat traumatisiert, verstarb in der Psychiatrie. Auch die extrem übergewichtige Mutter von Curro ist depressiv, verstirbt früh. Kiko Amat beschreibt einen Vorstadt-Horror im Großraum Barcelona, Sant Boi de Llobregat,; miese Wohnverhältnisse samt Kakerlaken. Es ist eine Trabantenstadt, in dem in den Sechzigern Hochhäuser für die innerspanischen Migrant:innen aus dem Boden gestampft wurden, um das  zuwandernde Fabrikpersonal unterzubringen. Eine Sozialstudie über Gewalt. Die völlig hilflose, depressive, adipöse Mutter, ein gewalttätiger Vater, ein ständiger Zwist mit dem Bruder Richard, eine Familie, die sich mit allen Nachbarn und Freunden verkracht und schließlich isoliert lebt; brutale Mitschüler, eine faschistoide Jugendkultur, eine Kindheit, die Curro allmählich in den Abgrund stürzt. Für seine Ticks wird Curro diszipliniert – angepasst sein an die Gesellschaft, nur das zählt. Was ist Wahn und was Normalität? Bei Curro ein fließender Übergang ohne Grenzen.


Unsere Wohnung … ist eng und feucht, und an den Wänden in der unteren Etage blättert der Putz und wölben sich die Zierleisten. Fast könnte man meinen, unsere Wohnung hätte Blähungen, Pickel und Entzündungen.


Zwei Perspektiven - eine Person

In der Psychatrie wird Curro begleitet von Plácido, einer Art Sancho Panza. Curro analysiert die Gesellschaft der achtziger Jahre und kritisiert sie in vielen Perspektiven. Das Ganze ist gleichzeitig mit viel Humor beschrieben, Szenen, bei denen man laut lachen muss. Eine fast respektlose Art und Weise der Beschreibung. Stakkato-Sätze treiben die Szenen voran. Am Anfang hat mir der Roman gut gefallen, vor allem, wenn der Erzähler, Curro der Jüngere, seine Verwandten beschreibt, die er in Exemplare nummeriert:


Das Exemplar Nummer 3 ist Richard, den wir auch ‹älteren Bruder›  nennen können. Es handelt sich um ein fleischfressendes Säugetier beim Übergang ins Erwachsenenalter. Zu seinen besonderen Merkmalen zählen die fettige Haut, der unangenehme Körpergeruch, der willkürliche Körperhaarwuchs ... Das Exemplar Nummer 3 ist selbst zu mentalen Prozessen geringer Komplexität nicht in der Lage und wird von seinem Handeln von primitiven Trieben und Instinkten geleitet.


Ein Roman mit zwei Seiten

Doch irgendwann verpuffte das Ganze für mich ab der Mitte. Ich begann unaufmerksam zu lesen, zu überfliegen. Die Geschichte ist extrem detailliert in vielen Szenen, viel zu durchgekaut für meinen Geschmack. Der Autor verbindet meisterhaft urkomische Momente, die eigentlich von enormer Brutalität geprägt sind. Es gibt feine Höhepunkte, beste Prosa und interessante Spannungsmomente. Trotz des bissigen Humors ist dies kein leichter oder unterhaltsamer Roman. Frech, flapsig, witzig. Die Dialoge zwischen Plácido und Curro erinnern oft an die so typischen Konversationen einer Sitcom. Groteske Sketche am Fließband; das war mir manchmal zu billig. Insgesamt einerseits interessant, aber für mich ein nicht wirklich überzeugender Roman.


Kiko Amat, geboren 1971, stammt aus Sant Boi de Llobregat, einer Trabantenstadt in der Peripherie von Barcelona. Sein Vater war Rugbyspieler, seine Mutter Krankenschwester in der örtlichen Psychiatrie. Im Alter von siebzehn Jahren brach er die Schule ab, wurde Mod, Kleptomane, Plattenhändler, Kassierer bei McDonald’s, Fließbandarbeiter bei Seat Martorell, Wachmann auf einem Campingplatz, Pförtner und Kellner in einem großen Hotel. Bisher hat er sechs Romane und drei Sachbücher veröffentlicht, die in seinem Heimatland Kultstatus besitzen und gesellschaftliche Randfiguren in urbanen Settings begleiten. Er schreibt regelmäßig für El País und El Periódico, ist Co-Direktor des Festivals Subsol im CCCB, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur in Barcelona, und ist Co-Moderator des Podcasts Pop y Muerta für Radio Primavera Sound.



Kiko Amat
Träume aus Beton
Originaltitel: Antes del huracán
Aus dem Spanischen übersetzt von Daniel Müller
Zeitgenössische Literatur, Spanische Literatur
Gebunden, 560 Seiten
Heyne Verlag, 2022




Spanische Literatur

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Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
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