Rezension
von Sabine Ibing
Tag der Befreiung
von George Saunders
Stories
In dieser entscheidenden Phase hätten Deine Großmutter rund ich (wie viele andere) weitaus radikalere Menschen sein müssen, um tun zu können, was immer wir hätten tun sollen. … Wir waren nicht bereit, auf alles zu verzichten zur Verteidigung eines Systems, das für uns wie Sauerstoff war: ständig benutzt, niemals bemerkt.
George Saunders erzählt in seinen Kurzgeschichten von den Gefängnissen, in denen wir stecken - den realen wie den eingebildeten. Die erste Geschichte hat mir am Besten gefallen. Hier schreibt ein Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen «Liebesbrief» an seinen Enkel, auf Papier, weil man den nicht ausspähen kann, wie eine E-Mail. Heute wird alles überwacht, man muss aufpassen, was man sagt. Anfangs haben noch einige aufgemuckt, doch dann haben sich alle daran gewöhnt – und nun ist es still. Der Präsident hat die Mandatsbegrenzung aufgehoben; keiner konnte das wirklich glauben. «Die Vögel kamen immer noch aus den Bäumen geflogen und so weiter.» Der Großvater meint rückblickend, damals hätten sie alle lauter und radikaler protestieren müssen. Doch was hätte man tun können? In diesem Brief muss man zwischen den Zeilen lesen. Er rät dem Enkel, wegen J. stillzuhalten, bis «diese Sache vorübergeht». Er bezichtigt sich selbst der Feigheit – er hätte etwas tun müssen, rät gleichzeitig dem Enkel, untätig zu sein. Eindeutig ein Fingerzeig von Saunders: Wie wird es aussehen nach der Wahl in den USA?
Ach je, worüber bin ich denn traurig?, dachte sie. Nichts, nichts, ich bin glücklich, ich habe Glück, fahre heim zu zwei tollen Kindern. Aus dem Gefängnis raus und wieder bei der Arbeit. Mit vier Rollen Papierhandtüchern, für die ich nicht mal bezahlt habe. Und so ein Kaffee-Dings im alten Beutelino. Und dann war ihr Gesicht, das sie im Busfenster sah: grantig.
Eine Mutter, will das Unrecht an ihrem Sohn sühnen, begeht dabei ein viel größeres Unrecht. Ihr Sohn wird von einem Obdachlosen umgestoßen. Man rächt sich ziemlich übel. Doch dann begegnet sie anderen Obdachlosen – sie sehen alle gleich aus. Und der hier, kann es gar nicht gewesen sein … Das schlechte Gewissen macht sich breit … Menschen, die immer den Kürzeren ziehen, weil sie nicht herauskommen aus ihrem Elend oder weil sie den Zeitpunkt einer Chance verpasst haben. Da ist der Obdachlose Elliott Spencer, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch dann tauchen im Hirn von Nr. 89 plötzlich kleine freudige Erinnerungen auf, Kindheitserinnerungen, Familie: Sein Name muss wohl Elliott Spencer sein. Brenda arbeit als Hilfskraft im Büro, völlig unterbezahlt, kommt kaum zurecht. Mal klaut sie Papierhandtücher, Toilettenpapier oder Kaffeekapseln. Minimal gegen das, was andere tun, denkt sie. Und dann wird sie erwischt, gekündigt. Von ihrem Platz hat sie alles im Blick – weiß, wer hier wirklich betrügt. Rache!
Mit der Zeit hatten sie ihn alle aufgegeben, außer Tante Janet, die trotz ihrer eigenen Kämpfe (Brandy, nächtliche Panik) Ricky nie aufgegeben hatte, nicht mal nach seinem Tod. Sie unterstützte eine kleine Ecke in der Bücherei, die Ricky-Rodgers-Gedenk-Lesenische, und stattete sie mit Büchern über Drogensucht und Christentum und Autoreparaturen aus.
Erzählungen die von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch handeln, sich von allem zu befreien; verzweifelte Lagen, Träume, die dahinter stehen. Geschichten mit Doppelbödigkeit, die davon berichten, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist. Neun Saunders-Storys, Meister der Kurzgeschichten. Auf den Punkt gebraucht, kein unnützer Satz. Völlig unterschiedliche Geschichten, die alle von einfachen Menschen handeln, lange nachhallen. Empfehlung.
George Saunders wurde 1958 geboren und wuchs in Chicago auf. Seine Kurzgeschichten wurden bereits dreimal in O. Henry Award Collections aufgenommen und zweimal mit dem National Magazine Award ausgezeichnet. George Saunders lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Rochester bei New York.
Kurzgeschichten. Zeitgenössische Literatur, Amerikanische Literatur
Luchterhand Verlag, 2024
Lincoln im Bardo von George Saunders
Bei Regen in einem Teich schwimmen von George Saunders
Wie funktionieren gute Geschichten, wie schreibt man sie und was erzählen sie uns über unsere Welt? George Saunders erklärt anhand von sieben klassischen Kurzgeschichten der russischen Meister, was die Essenz des Erzählens bedeutet. Zu Anfang des Kapitels ist die jeweilige Geschichte vorgestellt. Zwanzig Jahre lang hat der Schriftsteller George Saunders mit den Studenten seiner Master Class im Creative-Writing-Programm der Syracuse University nach dem Prinzip seiner Close-reading-Methode gearbeitet. Die direkte lockere Ansprache Saunders ist wohltuend. Erklärend, fragend, nie mit erhobenem Zeigefinger, durchzogen mit Humor. Ein lesenswertes Sachbuch für Literaturinteressierte.
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Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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