Rezension
von Sabine Ibing
Sumpffieber
von Vicente Blasco Ibáñez
In dem toten, wie Zinn blitzenden Wasser lag reglos die Postfähre: ein großer Sag, mit Leuten und Bündeln derart beladen … Ein unerträglicher Geruch verbreitete sich um das Boot herum. Seine Bretter waren vollgesogen von dem Schleim der Aalkörbe und dem Schmutz Hunderter von Menschen – ein Übelkeit erregendes Gemisch von schlüpfrigen Häuten, Fischschuppen und von unsauberen Kleidern …
Schön, dass immer wieder alte Klassiker neu aufgelegt werden – denn diesen spanischen Roman sollte man kennenlernen. Wer das Gebiet um das valencianische Albufera kennt, ist gleich mittendrin in diesem Drama. Vicente Blasco Ibáñez beschreibt die Lagunenlandschaft Albufera, die heute ein Hauptanbaugebiet für Reis ist, sehr atmosphärisch. Allerdings befinden wir uns im späten 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt von steht die Familie Paloma, die in El Palmar lebt; Hauptfiguren sind der Spross Tonet und sein Großvater Paloma.
Die Freiheit durch Gesetze eingeschränkt
Wie hatte sich das geändert! Jetzt gehörte die Albufera dem Staate – wer mochte nur dieser Señor sein? –, jetzt gab es Jagdpächter im Wald und auf dem See, und die kleinen Leute konnten keinen Schuss abgeben oder ein Stück Holz auflesen, ohne dass der Feldhüter mit dem Bandelier über der Brust und dem angeschlagenen Karabiner erschien.
Ein Sumpfgebiet, das damals wenige Hütten beherbergte. In den ärmlichen, feuchten Behausungen lebten Fischer, die ihren Fang ins nahe Valencia verkauften. Damals durften die Menschen fischen, wo sie wollten, Geflügel und Kaninchen jagen, wie sie wollten. Doch neue Gesetze schränkten immer mehr ein. Paloma ist ein harter Arbeiter, den schert es wenig, was die von oben sagen. Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Sein Sohn Tono will mehr, heraus aus dem stinkenden Fischgeschäft. Reis heißt das neue Zauberwort. Den Sumpf trocken legen und Reis anbauen. Auch ein hartes Geschäft. Sein Vater hat nur Verachtung für Tono übrig, der für die Reichen als Bauer arbeitet, um selbst später eigene Felder anzulegen. Tonet, der Enkel, hat für beide Arbeiten nichts übrig. Er ist ein Tunichtgut, hängt mit anderen arbeitsscheuen Jugendlichen herum; und sie machen nur Blödsinn. Um der Arbeit zu entgehen, meldet sich Tonet beim Militär und wird nach Kuba beordert. Bei seiner Rückkehr erhält er den Spitznamen Kubaner. Charakterlich ist er der Gleiche geblieben. Er schlawinert sich durch das Leben – und da gibt es Neleta, die er seit seiner Kindheit kennt, mit der er einst verlobt war; die in seiner Abwesenheit den dicken, alten Wirt geheiratet hat und nun eine reiche Frau ist. Eine verheiratete Frau.
Die Gier nach immer mehr
Einen Dreck scheren diese Einfaltspinsel mich … Ich bin der älteste Fischer vom See, aus meinem Mund sprechen eure Väter und Großväter, und was ich sage, hat Gewicht! Die Albufera gehört annen. Verstanden? Und es ist schamlos, einem Mann das Boot zu nehmen, weil er die Hacienda nicht bezahlt. Bedarf diese Dame vielleicht der elenden Pesetas eines Fischers, um zu Abend essen zu können?
Der Roman ist 1902 entstanden. Er beschreibt die damalige Zeit präzise aus allen Blickwinkeln. Eine Landschaft, die heute noch ähnlich ist; soziale Schichten kennzeichnenden Sprache und die Kritik am Kapitalismus; der Roman ist pure Sozialkritik an Spanien, an Valencia. Hier kommen die armen Menschen zu Wort, es wird aufgezeigt, wie sie vor Tatsachen gestellt werden, ohne dass man sie fragt, wie man ihnen die Lebensgrundlage entzieht, obwohl sie vorher bereits kaum etwas hatten. Mit vielen Nebenfiguren werden Land und Leute beschrieben, ihre liebenswerten Charaktere, harte Arbeit für darben Lohn – die Gerüche stehen dem Lesenden geradezu in der Nase. Eine Liebesgeschichte ist eingebunden, der Kampf der Fischer ums Überleben, der Kampf zwischen Mensch und Natur. Die Reichen kommen zum Jagen und sie lieben dieses Reisgericht, dass es nur in der Albufera gibt … Jeder versucht hier, seinen sozialen Status zu verbessern, jeder auf seine Weise mit seinen Mitteln.
‹Der Drei!›, sagte einer der Jagdhüter.
Und sofort nahm der Inhaber dieser Zahl den Platz, den er sich gewählt hatte. ‹Das Dickicht Gottes› … ‹Die verfaulte Barke› …’Der Winkel der Antina›. So vernahm man alle die Namen dieser bizarren Geografie der Albufera …
‹Der Vier geht zum Heiligen Rochus … Der Fünf zum Kack des Babiers.›
Ein 120 Jahre altes Buch liest sich spannend wie aus frischer Feder, beeindruckend, denn die Themen haben sich letztendlich nicht geändert. Atmosphärische Naturbeschreibungen, herrliche Charaktere, eine dramatische Geschichte, ein historischer Hintergrund, schonungslos das Leben der einfachen Leute beschrieben, dazu derber Humor, geben einen feinen Mix für dieses Drama. Diese Landschaft hat letztendlich ihren Charakter behalten, sie ist heute ein Naturschutzgebiet und zeigt eine breite Vogelwelt. Man kann mit Booten durch die Kanäle fahren und die Natur genießen. Fisch und Reis, heute der Haupterwerb neben dem Tourismus für die Menschen hier. Ein Abstecher von Valencia in die Albufera lohnt sich – man sollte sich auf jeden Fall dieses Buch einstecken, um sich atmosphärisch einzustimmen. Bereits die Mauren hatten sich dieses Gebiet kultiviert, um Reis, Gemüse und Orangen mit Hilfe eines ausgeklügelten Bewässerungssystems anzubauen.
Vicente Blasco Ibañez, geboren am 29. Januar 1867 in Valencia; gestorben am 28. Januar 1928 in Menton, Frankreich. Blasco Ibáñez studierte Rechtswissenschaften an der Universität Valencia und trat schon bald darauf in die Republikanische Partei ein. Wegen republikanischer Tätigkeiten erhielt er verschiedene Gefängnisstrafen und floh 1889 nach Paris. In Paris lernte er den französischen Naturalismus kennen, der einen starken Einfluss auf seine späteren Werke nahm. 1901 kehrte Blasco Ibáñez nach Spanien zurück und wurde dort in sechs Legislaturperioden in die spanischen Cortes gewählt. 1908 beschloss er, sich aus der Politik zurückzuziehen und sein Glück in Argentinien zu suchen. Nach einigen Jahren kehrte er jedoch nach Europa zurück und zog erneut nach Paris. 1921 entschloss er sich, in ein Haus nach Nizza zu ziehen, das ihm schon länger gehörte. Seine Bücher wurden häufig verfilmt, nicht zuletzt in Hollywood. Dort entstanden unter anderem die beiden Rudolph-Valentino-Filme Die vier Reiter der Apokalypse (1921) und Blut und Sand (Blood and Sand, 1922) sowie dessen Neuverfilmung König der Toreros (Blood and Sand, 1941). Letztere basieren auf dem Roman Blutige Arena (Sangre y arena, 1908), den Vicente Blasco Ibáñez bereits 1917 selbst verfilmt hatte. Er selbst schrieb für Sangre y arena das Drehbuch und führte zusammen mit Ricardo de Baños auch Regie. Weitere Verfilmungen seiner Werke sind Die Frau, die die Männer bezaubert (Circe, the Enchantress, 1924) mit Mae Murray und Dämon Weib (The Temptress, 1926) mit Greta Garbo. Ebenfalls 1926 wurde Mare Nostrum veröffentlicht, 1948 folgte eine weitere gleichnamige Adaption.
Sumpffieber
Originaltitel: Cañas y Barro
Aus dem Spanischen übersetzt von Otto Albrecht van Bebber
Mit Illustrationen von Florian L. Arnold
Hardcover 300 Seiten
Mediathoughts Verlag, 2023
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