Direkt zum Hauptbereich

Sem und Mo im Land der Lindwürmer von Frida Nilsson - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Sem und Mo im Land der Lindwürmer 


von Frida Nilsson


Der Geiz der Menschen erregt in mir Übelkeit. Warum wollt ihr nicht teilen? Warum glaubt ihr, nehmen zu dürfen, ohne geben zu müssen? Ihr habt eure eigenen Regeln für den Lauf des Lebens gemacht. Habt euch an die Kurbel gesetzt, die das Rad antreibt, statt euch hineinzubegeben und zu rennen wie wir anderen.


Sem und Mo sind Waisenkinder und sie freuen sich, als sie eines Tages von ihrer Tante abholt werden, die einen freundlichen Eindruck macht. Doch bei Tante Tyra müssen die Kinder arbeiten, in Homework Silber polieren, und sie dürfen nicht zur Schule gehen, nicht spielen. Sind sie nicht schnell genug, gibt es Prügel. Ein ärmliches Leben mit harter Arbeit in einem rauchigen Arbeiterviertel ist nicht das, was die Brüder sich für ihr Leben wünschen. Eines Abends steht eine sprechende Ratte vor ihnen, Schwarzfell, stellt sie sich vor, aus dem Land der Lindwürmer. Und er schwärmt von einer Königin, die sich nichts so sehr wünscht wie ein Kind. Er sei der Berater der Königin Indra, die Kinder liebt; bittet die Jungen, ihm zu folgen, verspricht ein Leben mit Spielzeug, gutem Essen, schlafen in weichen Betten mit in Seidenbettwäsche.


Kann es so ein Land geben?


Wenn sie uns keine Honigbrote schmierte, dann brachte sie uns Konfekt oder Nüsse und zum Abendessen im Speisesaal gab es Schwanenpastete oder Schweineherz oder Hasenpfoten in Gelee.


Doch Sem misstraut dem Tier. Wenn er nun angelogen wird, dies eine Falle ist? Die Kinder gehen zurück nach Hause und hier kommt es zu einem Eklat mit Tyra. Mo haut ab, rennt zu dem Loch, das Schwarzfell ihnen gezeigt hat. Denn nichts kann schlimmer sein, als bei Tante Tyra zu wohnen. Sem folgt seinem Bruder durch den unterirdischen Gang, weil er den Jüngeren beschützen muss. Sie sind erstaunt, als sie auf der anderen Seite ankommen. Herrlich frische Luft, duftende Wiesen und nicht weit entfernt können sie eine Burg ausmachen. Ob dort die nette Königin wohnt? Angekommen treffen sie auf Schwarzfell und einen sprechenden Dachs in Menschenkleidung. Sprechende Tiere, die aufrecht gehen und Menschenkleidung tragen – diese Burg ist merkwürdig. Die Jungen werden gut behandelt und als sie auf Königin Inda treffen, entpuppt sie sich als Lindwurm. Gutes Essen, Spaß beim Spielen, endlich ein Bett, eine herzliche Indra! Sie scheint sich besonders für Mo zu interessieren, zieht ihn in ihren Bann.


Fressen oder gefressen werden


Was ist eigentlich ein Mensch? Hier bin ich, mit einer Waffe in meiner Hand und dem Wunsch, zu töten. Bin ich ein Raubtier? Ein Held? Ich, Samuel. Ich, Sem. Der zittert, wenn er eine Ratte fangen soll. Wie muss man sein, um sich selbst zu mögen?


Zunächst scheint dies Wunderland der Himmel auf Erden zu sein. Doch die Königin verbirgt ein dunkles Geheimnis, dem Sem auf die Spur kommt. Doch Mo will nichts davon hören ...  Frida Nilsson tariert hier auf philosophische Weise die Beziehung zwischen Mensch und Tier, Gut und Böse, Unverderbtheit und Schuld, Macht und Unterdrückung aus. Empathisch geht sie die Themen an und dringt immer tiefer hinein. «Weil wir Raubtiere sind, nicht nur ich, du auch», sagt Tjodolf, der Bär, zu Sem. Fressen oder gefressen werden – Nahrung besorgen. 


Die Erhaltung der Art


‹Alles, was ich wollte, war, dem Tod zu entkommen›, sagte sie. ‹Die Linie zwischen dem Bösen und dem Trieb – wer kann sagen, wo sie verläuft?›


Die Art erhalten – alles dafür zu tun – was kann so falsch daran sein?, denn so lenkt die Natur alle Lebewesen. Perspektiven wechseln – wer ist gut und wer böse? Grauzonen und Widersprüche werden offengelegt. Wir lernen Unterdrückung auf verschiedene Arten kennen. Aber auch Identiätssuche; Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit spielen eine große Rolle. Die Kapitel sind am Anfang mit kleinen Vignetten von Torben Kuhlmann eingeleitet, die jeweils die Figur, den Gegenstand, anzeigen, auf die das Kapitel zugeschnitten ist. 


Ein Kinderbuch, das begeistert


‹Es war nicht nur lustig, als wir Tier gespielt haben, es war noch mehr als das und jetzt ist es mir wieder eingefallen! Es war befreiend!›

‹Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, Brynhild Dachs›, sagte Schwarzfell. ‹Und bald, sehr bald, werden wir endlich wieder frei sein. Wenn Indra bekommen hat, was sie sich wünscht.›


Ein sehr spannendes Märchen, großartige Fantasy, mit sensiblen Themen. Ein niveauvolles Kinderbuch, das sprachlich und inhaltlich begeistert. Der Gerstenberg Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahren. Ab! Das passt für mich als unterste Grenze – aber auch ein Stoff, der ältere Kinder und Jugendliche begeistern wird.


Frida Nilsson, geb. 1979, schreibt seit 2004 äußerst erfolgreich für Kinder. Ihre Bücher, darunter die Geschichten rund um Hedvig!, wurden in viele Sprachen übersetzt und sind vielfach ausgezeichnet worden. 2019 erhielt sie den James Krüss Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur, 2020 wurde sie für ihren Kinderroman «Sasja und das Reich jenseits des Meeres» mit dem Jahres-Luchs 2019 der Wochenzeitung DIE ZEIT ausgezeichnet.

Torben Kuhlmann, geb. 1982, studierte Illustration und Kommunikation an der HAW Hamburg. Seit 2014 arbeitet er als freier Illustrator und Autor. Seine Bücher wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet.



Frida Nilsson
Sem und Mo im Land der Lindwürmer
Mit Illustrationen von Torben Kuhlmann
Aus dem Schwedischen übersetzt von Friederike Buchinge
Kinderbuch, Kinderroman, Märchen, Fantasy, Kinder- und Jugendliteratur
Gebunden, 400 Seiten
Gerstenberg Verlag, 2022
Altersempfehlung: ab 10 Jahren







Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo