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Pommfritz aus der Hölle von Lioba Happel - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Pommfritz aus der Hölle 


von Lioba Happel


… aber da kam es schon, das Wort ihrer Liebe: ‹Komm her!›

… Meine Mutter wollte, dass ich zu ihr komme und ich wackelte in die Gegenrichtung meines instinktiven Davoneilens, und zack! Rein in ihre Faust. Na ja, ich war bald abgehärtet und machte mir gar nicht mehr so viel daraus. Der Moment der Berührung mit ihrer Haut war ja direkt ein Muttersegen. Ich lernte mit der Zeit, aus dem Schlag den Sekundenmoment der Berührung herauszufiltern, und spürte so was wie Vorfreude, wenn es hieß: ‹Komm her!›


Ein Briefroman – eine Anklage. Schau her, das ist aus mir geworden, weil du mich im Stich gelassen hast! Der Ich-Erzähler, den seine Mutter Pommfritz nannte, schreibt an seinen «Vatter in den Emmentälern», den er in Kindestagen lediglich einmal zu Gesicht bekommen hat. Er berichtet von seiner Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Mutter verbringt, die nur auf dem Sofa liegt und Unmengen von Pommfritz und Grillhähnchen verschlingt. Nun sitzt er in Einzelhaft, weil er seine Mutter erstochen und danach verspeist hat – «naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger». Dieser Briefroman war für den Schweizer Buchpreis im letzten Jahr nominiert – und das ist der einzige Grund, warum ich das Buch bis zum Ende gelesen habe. 


Eine Geschichte voll übler Gewalt und vulgärer Sprache


Abortgeburt. Fast hätte sies nicht bemerkt, und ich glaube in traurigen Stunden, es wäre ihr lieb gewesen, es nicht bemerkt zu haben. Abzug, runter und weg damit.


Mütter, die ihre Kinder verwahrlosen lassen, sie misshandeln, keine neue Sache. Mutterliebe ... ein Wort, über das man lächelt, wenn man in der sozialen Arbeit tätig ist. Die gibt es, natürlich – und die  ebenso verweigert werden kann. Der Kerl hat sie geschwängert und ist gleich abgehauen. Einmal kommt er auf Besuch, als der Junge noch klein ist, streicht dem Bengel über den Kopf und legt 100 Franken auf den Küchentisch, die die Mutter an die Wand heftet, ein Schein, der von ihr nie ausgeben wird. Die wird Pommfritz auf den Kopf hauen, gegen «zweimal Pimpern bei der Prügellilly». Eine Geschichte voll übler Gewalt und vulgärer Sprache. Ich habe in der Sozialarbeit vieles gesehen, was man eigentlich nicht wissen möchte, und ja, in manchen Familien geht es schlimm zu. In der Literatur greift man gern zur Übertreibung, um etwas deutlich zu machen. Aber wenn man zu tief in den Sack greift, dann wirkt die Geschichte surreal, beziehungsweise unglaubwürdig. Um eine Kinderseele zu zerstören, braucht es nicht viel. Und in diesem Fall wäre weniger für mich mehr. 


Gewalt = Liebe 


Und er nahm einen weiteren kleinen Bissen vom Finger, und er aß.

Und er wusste jetzt, sie war erlöst.

Er hatte seine Mutter erlöst und ihr Ruhe gegeben, er war nicht mehr Pommi, und er war nicht mehr Fritz, er war etwas anderes – was?


An seinem dreissigsten Geburtstag besucht Pomelius Fridericus, genannt Pommfritz, seine Mutter. Er ersticht sie, schneidet eine Fingerkuppe ab, brät sie in der Pfanne und verspeist sie genüsslich – um die Mutter zu befreien. In dieser Anklageschrift, bestehend aus 23 Briefen, die er dem Vater aus dem Gefängnis schreibt, schildert er sein Leben. Wo andere Kinder geknuddelt werden, wird dieser Junge geschlagen. Zuwendung und Aufmerksamkeit, Berührung = Gewalt = Liebe. Die Mutter liegt fast stumm auf dem Sofa «Beschissen!», entfährt ihr des öfteren. Fast die einzigen Geräusche, die von sich gibt, ist das Schmatzen beim Kauen von Hähnchen. Versucht der Junge, der sich nach Zuwendung sehnt, zu ihr hinüberzukriechen, gibt es Tritte und Schläge. Und sie bindet ihn gern an den Tisch. Sein Spielzeug sind Fliegen und Dreck. Gewalt = Liebe – so sehnt sich das Kind nach Schlägen, die die körperliche Berührung der Mutter implizieren. «Beschissen!», war sein erstes Wort. Kommt die Frau vom Sozialamt, Angelina, vorbei, so wandelt sich die Mutter, dressiert den Jungen auf das, was er zu sagen hat und spielt Angelina etwas vor. Nachdem, wie Pommfritz die Wohnung beschreibt, scheint mir dieses Schauspiel unglaubwürdig. Der erwachsene Pommfritz, der Prügel als Zuneigung in sich verankert hat, sehnt sich nach Strafe und Züchtigung und landet bei der Prostituierten, die man Prügellilly nennt, die einen ordentlichen Schlag drauf hat. Die Welt teilt sich der Junge klar ein: Gut – Böse (welches überwiegt); Grauzonen kommen in seiner Welt nicht vor. Auf dem Thron sitzt der abwesende, unbekannte Vater – eine Heiligenfigur, die man nicht stürzen kann, weil sie letztendlich surreal ist, aus den eigenen Wünschen erwachsen. 


Eine psychotische Abspaltung von seinem realen Ich


Ich lernte mit dem Schlag den Sekundenmoment der Berührung herauszufiltern und spürte so was wie Vorfreude, wenn es hiess: Komm her!


Pommfritz schreibt Briefe an den Vater, erzählt von seinem Leben. Ist es so gewesen? Dieser Vater antwortet nie. Es ist der letzte Versuch vom Pommfritz, Zuneigung von irgendwem zu erhalten, der ihm etwas bedeutet: der letzte Held – der Vater. Ein Icherzähler – damit möglicherweise ein unzuverlässiger Erzähler. Was ist die Wahrheit? Gewalt in der Familie und was sie aus einem macht, ist das Thema. Mutterhass, anstatt Mutterliebe. Dieser Pommfritz beginnt im Knast zu lesen, zu schreiben, sein Lieblingsschriftsteller ist Rimbaud. Die Sprache der Figur ist zwar derb, doch die Gedankengänge scheinen mir zu intellektuell auf die Lebensgeschichte dieses Jungen, der als nicht allzu helle dargestellt wird. Nach dem Mord an der Mutter mutiert er zu Gott – eine psychotische Abspaltung von seinem realen Ich. 


Nominierung zum Schweizer Buchpreis 2023

Normalerweise mag ich Romane, die einen sozialen Brennpunkt in der Mikroperspektive beleuchten und die Realität aufblättern. Dieser Roman ist mir jedoch zu einseitig und surreal. Zu diesem Pommfritz habe ich keinen Zugang gefunden; mich hat seine Schilderung nicht mal berührt – ich habe sie heruntergelesen. Eigentlich benötigt es nicht viel, um mich mitzunehmen – wenn ich mich einfühlen kann. Zu grotesk, zu irreal, denn am Ende ist klar, dieser Junge ist psychotisch. Ein Roman, dessen Icherzähler ein unzuverlässiger Erzähler ist, psychisch krank, vom dem wir nicht erfahren werden, was die Wahrheit ist. Er hat sicher Schlimmes erlebt. Doch letztendlich erlangt der Lesende keine Befriedigung, weil er sich bis zum letzten Blatt kein reales Bild machen kann. Ich habe nichts gegen Gewalt in der Literatur, wenn sie die Realität abbildet, glaubhaft und eindringlich. Dieser kleine, dünne Briefroman konnte mich nicht packen, weder inhaltlich, emotional, noch von der Sprache. Ich habe das Buch auch nur zu Ende gelesen, weil es für den Schweizer Buchpreis 2023 nominiert war – ansonsten hätte ich spätestens in der Mitte zugeklappt. Wie schön, dass es zu jedem Buch verschiedenen Meinungen gibt. Dies war eben nicht meins – aber es konnte das Herz der Jury für sich gewinnen. 


Lioba Happel, geboren 1957, war viele Jahre in Deutschland und der Schweiz im schulischen und sozialen Bereich tätig. Sie hat sowohl Lyrik wie Prosatexte veröffentlicht und erhielt diverse Auszeichnungen, zuletzt den Alice Salomon Poetik Preis 2021. Nach längeren Aufenthalten in England, Irland, Italien und Spanien wohnt sie heute in Berlin und Lausanne.



Lioba Happel 
Pommfritz aus der Hölle
Zeitgenössische Literatur, Briefroman, Schweizer Buchpreis, Schweizer Literatur
Taschenbuch, Pocketformat, 136 Seiten 
edition pudelundpinscher, 2021 




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


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