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Metropol von Eugen Ruge - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Metropol 


von Eugen Ruge

Sprecher: Ulrich NoethenUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 29 Min.Argon Verlag, Audible, 2019


Dass die Menschen glauben, was sie glauben wollen – das ist doch wirklich kein großes Geheimnis. Oder doch? Wie dumm sind die Menschen? Wie dumm sind die, die an irgendwas glauben? Und wie dumm sind die, die nicht einmal merken, dass sie es tun?

Für mich hat Arthur Koestlers weltberühmter Roman «Sonnenfinsternis» erstmals beleuchtet, wie zur Stalinzeit die politischen Säuberungen innerhalb der eigenen revolutionären Partei brutal und völlig kopflos durchgeführt wurden. Jeder steht unter Generalverdacht – einer denunziert den anderen, Historiker gehen von 3 Millionen bis hin zu weit über 20 Millionen Toten aus. Es erinnert an die Französische Revolution. Heute Volksheld, morgen Kopf ab als Volksverräter … Dieser Roman nimmt das Thema auf und zeigt, wie viele deutsche Kommunisten sich damals der russischen Revolution angeschlossen hatten und den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen, zeigt die Schauprozesse und Verfolgung der Menschen, die durch einen kleinen unbedachten Satz auffielen oder mit irgendwem bekannt waren, denunziert wurden, somit unter Verdacht gerieten, selbst Kollaborateure, Trotzkisten, zu sein. Es ist die Familiengeschichte von Eugen Ruge, die seiner Großmutter.

Ohne Angabe vom Gründen vom Dienst suspendiert

Die deutsche Kommunistin Charlotte konnte 1936 gerade noch vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Moskau fliehen. Im Spätsommer bricht sie mit ihrem Mann und der jungen Britin Jill zu einer mehrwöchigen Urlaubsreise durch die neue Heimat Sowjetunion auf. Noch sind sie Agenten des Nachrichtendienstes OMS. In Moskau hatte man zuerst vielen Militärführern den Prozess gemacht, fast die gesamte Führungsriege wurde ausgetauscht. Und nun wird beim Nachrichtendienst und der zivilen Bevölkerung weitergemacht. Das Paar wird nach dem Urlaub ohne Angabe vom Gründen vom Dienst suspendiert, muss aus der Wohnung ausziehen: Loyalität und Gehorsam, Verdächtigung und Verrat, Angst um das eigene Leben, sie wissen nicht, worum es geht. So sitzen Charlotte und Wilhelm nun im Moskauer Hotel Metropol fest, warten auf die Entscheidung des Innenministeriums der UdSSR, als Staatsfeind oder treue Anhänger zu zählen. 477 Tage werden sie dort ausharren müssen. Später erfahren sie, dass Wilhelms erste Frau die beiden denunziert hatte. Ein alter Freund wurde verhatet und hingerichtet, unter dem Verdacht, ein Trotzkist zu sein.

Bei Frauen entscheidet er sich meistens für zehn Jahre Lager. Aber warum eigentlich. Herrscht nicht Gleichberechtigung in der Sowjetunion? Tod durch Erschießen, entscheidet Wassili Wassiljewitsch. Er setzt seine Unterschrift unter das Urteil, nimmt sich die nächste Akte vor. Aber dann fällt ihm ein, dass heute Feiertag ist. Und er sitzt schon wieder hier und schuftet. Während die anderen bei Woroschilow Haselhuhn fressen und Champagner saufen. Irgendwie kränkt es ihn doch, dass er nicht eingeladen ist.

Aber jeder hier glaubt bis zum Schluss an Lenin und den Staat 

Eugen Ruge arbeitet mit drei Perspektiven. Charlotte Germaine erzählt ihre Sicht der Dinge, lässt ihren Gedanken freien Lauf. Einen kleineren Teil hat die erste Frau Wilhelms, Hilde Tal, die als Sekretärin für das OMS arbeitet. Sie ist selbst voller Angst, glaubt, sich durch Denunziation vor dem stalinistischen Terrorsystem in Sicherheit bringen zu können. Die dritte Perspektive hat Wassili Wassiljewitsch Ulrich, dem das Ehepaar im Monopol begegnet, der der als oberster Militärrichter der Sowjetunion mehr als 30.000 Todesurteile unterschrieb und als Konkurrent von Lenin zählte, den es zu beseitigen galt. Im Hotel kommen Menschen an, andere verschwinden – meist verurteilt. Lion Feuchtwanger wohnt Wand an Wand mit Charlotte und Wilhelm. Die Angst dringt durch die Mauerritzen, jeder misstraut hier jedem. Aber jeder hier glaubt bis zum Schluss an Lenin und den Staat – jeder versteht, dass Staatsfeinde ausgerottet werden müssen – jeder glaubt, er kommt davon, denn jeder meint, er sei aufrichtig und habe nichts verbrochen. Eugen Ruge beschreibt diesen Mikrokosmos des Hotels präzise. Es ist erstaunlich, wie sehr Menschen weiterhin einem Regime vertrauen, völlig blind, das letztendlich jeden im Visir hat. Charlottes Innenperspektive ist spannend beschrieben, die Verhöre: Was wird gesagt, was gedacht, wie verstrickt man sich. Die Angst hängt im Nacken, was ist man bereit, zu sagen, um sich selbst aus der Schlinge zu ziehen? Ein historisch wichtiges Buch, ein klasse Roman, der mit leisen Tönen arbeitet, die tief eindringen, die aufdecken, wie eine bestialische Diktatur funktioniert.


Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» wurde er unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung» sowie die Romane «Cabo de Gata» und «Follower».


Eugen Ruge 
Metropol
Sprecher: Ulrich Noethen
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 29 Min.
Roman, historischer Roman, russische Geschichte
Argon Verlag, Audible, 2019
Rowohlt Verlag, 2019, gebunden, 432 Seiten






Noch mehr historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.
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