Direkt zum Hauptbereich

Kramp von María José Ferradas - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Kramp 


von  María José Ferradas


Schon bald gesellte sich zu dem Koffer ein Satz Puppen ... ein grüner Mantel mit Brosche, eine gelbe Micky-Maus-Thermoskanne, eine Schirmmütze, eine Schwimmweste und ein weiteres Dutzend Gegenstände, die ich unter der Rubrik ‹Einnahmen› in dem Notizbuch verzeichnete, das ich jederzeit bei mir trug.

Mit acht Jahren war mir klar, dass D. als Vater nicht viel hermachte, aber dafür war er ein großartiger Arbeitgeber.


Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich - selbst als Vertreter für Eisenwaren der Marke Kramp in Chile Anfang der 80er Jahre. Nägel, Schrauben, Muttern, Werkzeuge, Fuchsschwänze, Türspione. Der Papa, D., ist Handelsvertreter für Eisenwaren und weil Kinderaugen auch Eisenwarenhändlerherzen schmelzen lassen, nimmt der Vater kurzerhand seine siebenjährige Tochter M.  mit auf Verkaufstour, ernennt sie zur Reisevertretergehilfin. M., die Erzählerin, genießt ihren Job, sahnt Lackschuhe und Zigaretten und einiges mehr ab, verschweigt ihr Doppelleben der Mutter, die ohnehin ganz andere Sorgen zu haben scheint. Der Vater gibt M. das Gefühl einer gleichberechtigten Partnerschaft, was Selbstvertrauen verleiht. Sie lernt schnell, arbeitet an Mimik und Gestik, ist sich der Macht bewusst, wie ihr zu Tränen gerührter Blick einen potenzielle Kunden zum Kauf erweichen kann. Man reist durchs Land und trifft auf Kollegen aller Branchen in immer den gleichen Cafés, Restaurants, Billighotels. Hier lernen sie auch E. kennen, Vertreter für Drogerieartikel, Filmvorführer und Fotograf, der als Hobby Geisterjäger ist, die Geister fotografieren will. Der Vater schraubt seiner Tochter eine schöne Illusion der Welt in den Kopf. Denn Kramp steht für Verlässlichkeit, die Produkte stehen für Stabilität und halten alles zusammen. 


Als wir das Dorf gerade hinter uns gelassen hatten, versperrte uns ein Auto den Weg. Zwei Männer stiegen aus. 

... verzichtete ich auf den Einsatz meiner Bühnentricks, trotz meiner dürftigen Erfahrung begriff ich, dass dies kein Theaterstück war. 

... D. und E. stiegen aus und gingen, von den beiden Männern begleitet davon.


Irgendwann kommt der Leser an den Punkt, an dem er schluckt. Wir befinden uns in Chiles schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur von Diktatur Augusto Pinochet. Das Vater-Tochter-Roadmovie nimmt ein jähes Ende. E.'s Aktivitäten bleiben nämlich von der Regierung nicht unbemerkt. Die Reisenden sind angekommen in der Wirklichkeit. Menschen verschwinden spurlos, doch der Vater schaffte es, das Kind vor allem bis zu diesem Zeitpunkt zu bewahren. M. sieht so die heile Welt, die der Vater für sie inszeniert. Stück für Stück realisiert das Kind nun die reale Welt. Eine fragmentierte, distanzierte Erzählung; die Protagonisten werden mit Großbuchstaben benannt. Trotz allem liegt sehr viel Wärme in der Vater-Tochter-Beziehung, man spürt das ganze Spektrum der Emotionen. Mit E., dem Filmvorführer und Fotografen, der immer auf der Suche nach Geistern in unbewohnten Dörfern ist, sie sie fotografisch festhalten will, zeigt sich die Suche nach den Vermissten – von denen jeder weiß, dass sie tot sind – Geister, denn ihre Körper wurden nie wieder gesehen. Wir wissen, viel später werden viele von ihnen in Massengräbern gefunden werden. E. habe Verbindung zu ausländischen Zeitungen, so bekommt M. mit. «E. war eine Nebenfigur in unserem Leben›, sagt M., ‹und wir waren Nebenfiguren in einer größeren Geschichte.» Am Ende löst sich einiges auf, auch die Zurückgezogenheit, die Depression der Mutter. Und es gibt am Schluss einen voll ausgeschriebnen Namen. Auf einhundertzwanzig Seiten erzählt María José Ferrada berührend das Ende der Kindheit der kleinen M. Am Anfang erklärt D., dass ein Haus, welches zu achtzig Prozent aus Kramp-Produkten gebaut wurde, nur bei einem Erdbeben oder einem Tornado zusammenbrechen würde. Und der Tornado war über das Land gefegt.


Der ‹Glückskäfer› ist keine Spezies, sondern ein Insekt, das genau an der Stelle landet, an der das Leben einen anderen Verlauf genommen hat... Es ist ein Bruchteil einer Sekunde, der so klein ist, dass nur ein Insekt ihn durchqueren kann. Ein Insekt, das, wenn es erscheint, das Leben in zwei Hälften teilt.


María José Ferrada ist Kinderbuchautorin, hatte in ihrer chilenischen Heimat bereits über dreißig Kinderbücher herausgegeben, ehe sie mit Kramp den Weg in die Erwachsenenliteratur wagte. Die Journalistin und Autorin wurde 1977 in Chile geboren. Sie lebt in Santiago. Ihre Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt. «Kramp» wurde mehrfach ausgezeichnet.


Maria Jose Ferrada
Kramp
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen
Originaltitel: Kramp (2017)
Novelle, Chilenische Literatur, Lateinamerikanische Literatur, Chile
 Halbleinen, fadengeheftet, 134 × 200 mm, 129 Seiten
Berenberg Verlag, 2021


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris

  Wie ich mein Sternerestaurant zurückließ, in Italien Inspiration für neue Gerichte fand und mich am Ende selbst überraschte Daniel Gottschlich erhielt als erster Koch das Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom – die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstler im Ausland. Ein Koch, als Künstler? Man argumentierte mit dem von Joseph Beuys geprägtem «erweiterten Kunstbegriff», der das Kreative mit dem Künstlerischen gleichsetzt. Tage des Austauschs und der Inspiration, Stunden voller kreativer Eindrücke und künstlerischer wie musischer Erlebnisse. Im Mittelpunkt aber stand: die ausgezeichnete italienische Küche. Neben dem Reisebericht und den Eindrücken gibt es 30 Rezepte. Das erzählende Sachbuch ist eine Mischung aus Reiseliteratur und Kochbuch. Inspirierte Italienische Küche, Kulinarisches der mediterranen Küche, Lieblingsrezepte, Weltküche. Ein gelungenes Buch! Empfehlung! Rezension:   Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris...

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans 

Rezension - Männer, die die Welt verbrennen von Christian Stöcker

  Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit  Profiteure der fossilen Brennstoffe versus erneuerbare Energien im Zeichen der Klimakatastrophe – wer ist dabei, unsere Welt zu verbrennen und warum? Die Welt steckt in der Endphase eines Kulturkampfs: Gier gegen Gerechtigkeit, Zerstörung gegen Nachhaltigkeit, Zynismus gegen Empathie. Nichts zeigt dies deutlicher als die Reaktionen auf die Klimakatastrophe: Hier jene, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern, dort jene, die alles tun, um aus dem Verbrennen fossiler Stoffe Profit zu ziehen, die behaupten, es gäbe keinen Klimawandel, bzw. das sei alles nicht schlimm. Jahrzehntelang haben Ultrareiche mit ihren Unternehmen mit CO₂-Produktion gut verdienen, mit skrupelloser Desinformation Zweifel daran gesät, dass wir Menschen mit unserer Sucht nach fossilen Brennstoffen die Erde aufheizen.  Ich kann nur jedem raten, dieses Buch zu lesen, wenn er die Klimaerwärmung verstehen will. Denn Öl, Gas und Kohle sind die Haupt...

Rezension - Echte Meeresungeheuer: ... und wie sie überlebt haben von Anita Ganeri und Jianan Liu

  Auf der ganzen Welt haben Seeleute seit der Antike Geschichten von kolossalen Tiefsee-Kreaturen erzählt, die Schiffe zum Kentern brachten und die Besatzungen in Angst und Schrecken versetzten. Es gibt zwar keine mythischen Seeschlangen oder Meerjungfrauen, aber es gibt seltsame, wunderbare Geschöpfe, die in der Tiefe der Ozeane lauern. Dieses Buch stellt 10 von ihnen mit realen Fakten, Zahlen vor, Legenden, die sie umranken, wie z.B. Narwal, Koboldhai, Regalecus Glesne, Chiasmodon Niger oder Karibik Manati. Klasse Kindersachbuch zum Thema Meerestiere ab 8 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Echte Meeresungeheuer: ... und wie sie überlebt haben von Anita Ganeri und Jianan Liu