Rezension
von Sabine Ibing
Erfüllung
von Nina Bouraoui
Die sieben Hefte der Michèle Akli (Algier, 1977–1978)
Meinen Garten habe ich in Erinnerung an die Abbildungen in den Atlanten meiner Kindheit angelegt. Zwischen den Karten mit den Ozeanen gab es Bildtafeln von exotischen Gärten. Die sammelte ich und träumte von einem anderen Land als Frankreich, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Dort würde ich nicht alt werden.
Nach Algerien kam ich 1962, nach der Unabhängigkeit. Ich hatte gerade Brahim geheiratet und ging mit ihm. Algerien ist mein Land geworden. Eines Tages wird es mein Grab sein. Ich bin achtunddreißig Jahre alt; es ist bereits das Grab meiner Jugend.
Algier 1977, die 38-jährige Französin Michèle Akli lebt mit ihrer Familie in Algerien. Sie war ihrem algerischen Mann Brahim nach der Unabhängigkeit 1962 in sein Heimatland gefolgt. Sie leben mit ihrem 10-jährigen Sohn Erwan in einem kleinen Haus über der Stadt. Michèle Akli geht einkaufen, unternimmt Strandausflüge mit ihrem Sohn, hat jedoch wenig Spielraum sich zu bewegen, ihr fehlen soziale Kontakte, und sie fühlt sich nach den Jahren im fremden Land zunehmend verloren. Ein Roman von großer Sinnlichkeit und Intimität über das Ende von Kindheit, die Vergänglichkeit der Liebe und die Sehnsucht, die einem den Verstand rauben kann. Großartig geschrieben, Bilder, die man immer wieder noch einmal lesen möchte.
Historischer Rückblick
Um das alles zu verstehen, ein kleiner Rückblick: Der Algerienkrieg 1954 bis 1962 machte das Land von seiner Kolonialmacht Frankreich unabhängig. Die Sozialistische FLN übernahm, und 1965 gab es einen Militärputsch – das Land wurde weiterhin sozialistisch regiert, aber innenpolitisch sorgte der Militärgeheimdienst Sécurité Militaire (SM) für die Ausschaltung politischer Gegner. 1976 wurde der Islam zur Staatsreligion. Das Boumedienneregime kooptierte die vorhandenen Strukturen der Rechtsgelehrten durch Institutionalisierung religiöser Strukturen als Staatsbeamte, und der Staat kontrollierte durch das Ministerium für religiöse Angelegenheiten Lehr- und Predigtinhalte.
Abgeschottet und vereinsamt
Paradiesvogelblumen sind mir die liebsten. Durch die Gardinen unseres Schlafzimmerfensters sehen sie aus wie Kinder mit gesenkten Köpfen, als würden sie beten oder Buße tun. Auch Sukkulenten mag ich, Palmen, faserige Rinden, die zu Lianen werden, harzige Stämme, Jasmin, Glyzinien und Mimosen, die sich wie fleischige Trauben in meinen Händen anfühlen. Die Natur ist von einer traurigen Schönheit, man kann sie nicht bewundern, ohne zu weinen, man kann sie nicht erklimmen, ohne zu fallen. Man sagt, die Erde sei noch mit Blut getränkt, es brauche eine weitere Revolution, um sie zu reinigen. Ich glaube an die Wiederholung der Geschichte, an die ewige Wiederkehr der menschlichen Torheit.
In diesem Sommer 1977 brodelt der Kessel, ein Kipppunkt in der algerischen Geschichte. Man muss aufpassen – Menschen werden beobachtet, verfolgt. Das wird nie offen gesagt, doch zwischen den Zeilen wirkt die Angst groß. Autos verfolgen Michèle, sehr offensichtlich legen ein anderes Mal die Verfolger sich neben die Familie an den Strand, spielen mit der Angst. «Frauen dürfen ihre Lust nicht teilen. Die Miliz verbietet das.» Michèle spürt noch sexuelles Verlangen zu ihrem Mann, doch die Liebe ist erloschen. Da gibt es nichts mehr, was sich in ihrem Herz verankert; nur die Lust nach dem Körper. Doch darf sie dem Sohn den Vater nehmen? Michèle konzentriert sich auf ihren prachtvollen Garten und ihrem Sohn. Erwan hat sich in der Schule mit «Bruce», wie Bruce Lee, angefreundet. Die Mutter des Mädchens, Catherine, ist ebenso Französin, die mit einem erfolgreichen Algerier verheiratet ist. Die Familie lebt in einem abgeschotteten Luxusbunker im Shell-Gebäude auf einem Hügel über der Stadt. «Ich verbringe mehr Zeit damit, mir ein Leben vorzustellen, als damit mein eigenes zu leben.» Letztendlich vegetieren diese Frauen und Kinder in einem Käfig, ob nun versilbert oder golden – das nimmt sich nichts.
Die Vorahnung
Ich liebe Brahim, aber ich liebe ihn nicht mehr wie am ersten Tag. Zu Beginn nimmt uns die Liebe gänzlich ein, alles in uns und um uns, sie macht sich überall breit, verwandelt Lärm in Stille, acht den Alltag zu einem Fest und verbindet selbst in schlechten Zeiten. Jetzt ist unsere Beziehung nicht mehr so vollkommen. Dieser Gedanke ist beschämend, trotzdem schreibe ich ihn nieder. In diesem Notizheft, und nur hier, hat die Scham Platz.
Eine Mischehe galt in Algerien, die französischen Kolonisten hatte man endlich aus dem Land geworfen, als Verrat. Sie sind Ausländer, werden es immer bleiben, haben keinen Kontakt zur Außenwelt, leben in einer abgeschlossenen Welt, in der sich Angst breitmacht. Französische Frauen werden als «Sexobjekte» betrachtet, so Michèle, und «französische Familien integrieren sich nicht», so die Meinung der Algerier. Michèle, eine Frau, die ihren Platz in einer islamistischen Männerwelt sucht, einen Sinn für ihr Leben und beides nicht findet. «Gewalt vergeht nicht: Wie eine Qualle zieht sie ihre Tentakel hinter sich her.» Immer wieder ahnt sie die sich anbahnende Katastrophe, und sie spricht von einem zweiten Krieg. Eine Ehe, in der man sich nicht mehr viel zu sagen hat, ein Sohn, der bald sein eigenes Leben leben wird. Ihr Leben voller Nutzlosigkeit.
Uns steht ein zweiter Krieg bevor, seine Soldaten halten sich noch versteckt. Dieses Land besteht aus zwei Welten, einer sichtbaren und einer unsichtbaren, dem symbolischen Fundament eines Territoriums, das sich heimlich aufbauen und alles zerstören wird.
Der Traum vom geheimnisvollen Orient - geplatzt
Nina Bouraoui, beschreibt das kleine Umfeld der Protagonistin sinnlich-melanchonisch mit allen Facetten: ihren Gefühlen, den Gerüchen, den Farben, den Geräuschen. Sie beschreibt ihre Eifersucht auf Bruce, denn der Sohn verbringt immer mehr Zeit mit der Gleichaltrigen. Ein weiterer Bereich von Michèles Leben, der entschwindet, sie weiter in die Einsamkeit drängt. Die einstige Vorstellung vom geheimnisvollen Orient ist verblasst und Realität schält sich heraus. Sie fühlt sich nicht angenommen von diesem Land. Eine kraftvolle Sprache, poetische Melancholie – eine literarische Perle.
Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet und für den Prix des Cinq Continents nominiert. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind». Eine Nominierung für diesen Roman erhielt sie für den Prix Fémina 2022 und den Prix Fémina des Lycéens 2022.
Erfüllung
Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet
Zeitgenössische Literatur, Algerien
Hardcover mit, Schutzumschlag, Lesebändchen, 226 Seiten
Elster & Salis Verlag, 2022
Geiseln von Nina Bouraoui
Weiter zur Rezension: Geiseln von Nina Bouraoui
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
Kommentare
Kommentar veröffentlichen