Direkt zum Hauptbereich

Geiseln von Nina Bouraoui - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Geiseln 

von Nina Bouraoui 


Der Anfang: 

Ich heiße Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter zweier Kinder. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich leite die Personalentwicklung. Ich bin nicht vorbestraft.


Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt ... Sylvie Meyer, die alles in sich hineinfrisst. Eine unerfüllte Ehe, und als ihr Mann sie verließ, sagte sie nichts, weinte nicht: «Es war eine Nachricht wie jede andere, sie hätte aus den Abendnachrichten sein können.» Sie macht weiter wie zuvor, versorgte die Kinder. Ihr Job füllt sie aus, ihr Chef Victor Andrieu verlässt sich auf sie, denn sie hat die «fleißigen Bienen», die Arbeiterinnen, im Griff. Sie war selbst mal eine, hat sich hochgearbeitet. Der Chef bezirzt sie, hebt sie auf ein Podest – ohne sie würde der Betrieb nicht laufen, sie sei das Herz, der Motor. Der Umsatz läuft plötzlich nicht mehr so, wie Victor es gern hätte. Sylvie soll Maßnahmen treffen – es kann ja nur an den Arbeiterinnen liegen. Es beginnt damit, dass sie die Bienen, heimlich überwachen soll, Listen erstellen, wer etwas taugt, wer nicht, wer schnell ist, wer loyal, flexibel, belastbar – und eben wer nicht. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen und entlassen. An der Leistungsschraube drehen. Sylvie fügt sich. Doch irgendwann rebelliert sie und schreitet zur Tat. Sie verliert viel, doch für eine kurze Weile fühlt sie sich wieder lebendig und frei.


Letztendlich ist Sylvie  nie dem Bienenkorb entronnen


Ich habe meinen Schutzmantel, so bin ich nun mal: Ich erkenne das Böse. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich habe mein Inneres zu einer Festung gemacht. Ich kenne jede Kammer, ich kenne jede Tür. Ich kann sie schließen, wenn ich sie schließen muss, öffnen, wenn ich sie öffnen muss. Das funktioniert gut.


Ein Monolog – eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Du hast das alles ertragen, hast funktioniert. Warum? Die Abhängigkeit von Männern. Vom Vater, vom Ehemann, vom Chef. «Fleißige Bienen» lassen sich befehlen und machen die Arbeit. Letztendlich hat sich Sylvie zwar hochgearbeitet – doch sie ist nie dem Bienenkorb entronnen; sie ist lediglich die Bienenkönigin. Irgendwann ist es genug. Dicht und präzise resümiert die Ich-Erzählerin ihr Leben. Gewalt ist eine Lösung. Das Küchenmesser. Sylvie hat nie gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen, sie hat einen Panzer um sich herumgebaut, der zu bröckeln beginnt. Natürlich hat es sie getroffen, als ihr Mann sie verließ, und sie wünscht sich, er käme zurück und man könne von vorn beginnen. Miteinander leben, nicht nebeneinander.


«Hommage an die Geiseln der Wirtschaft und der Liebe» 


Ich bin dir böse, Victor. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Ich bin dir böse, weil du meine Wand zerstört hast, ... die Wand, die niemand einreißen darf. Die Wand zwischen Gut und Böse. Früher stand ich auf der richtigen Seite. Ich war nicht perfekt, ich hatte meine Schwächen, aber ein reines Gewissen. ... Aber du hast mich erpresst.


Nina Bouraoui lässt ihre Protagonistin genau beobachten, die Nadelstiche in ihrem Leben herauskristallisieren, sprachlich kurz und knapp, poetisch an anderen Stellen. Verknappte Szenen, schonungslose Innenansichten, das Drama des eigenen Lebens. Nina Bouraoui sagt, sie hat ihren Roman verfasst als «Hommage an die Geiseln der Wirtschaft und der Liebe, die wir alle sind.» Denn Sylvie steht ganz allgemein für die Frau in der Gesellschaft, die auf allen Ebenen gleichzeitig zu funktionieren hat: Arbeit, Haushalt, Kinder, während der Mann sich zurücklehnt, denkt und lenkt. Demütigungen ertragen, Mund halten, weiter machen, weil man keine andere Wahl hat – eine Geisel der Gesellschaft, der Wirtschaft. Männliche Gewalt hat viele Gesichter. «Der Job war mein Liebhaber geworden; aber ohne Respekt seines Chefs zu arbeiten, das geht nicht.» Und plötzlich fühlt sich auch Sylvie müde und ausgelaugt – etwas das doch nur andere betrifft, niemals sie. Die Autorin reit sich ein in die Richtung von Marguerite Duras und Annie Ernaux. Ihre Sprache ist stringent, besitzt eine schonungslose Beschreibungspräzision, mit der sie ihren Stoff entfaltet. Ein starker Roman, den ich gern weiterempfehle!



Nina Bouraoui 
Geiseln
Originaltitel: Otages
Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Rouanet
Zeitgenössische Literatur, Französische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 125 Seiten
Elster & Salis Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke

  Ein Haus im Süden, der Traum von vielen Menschen. Doch ein Haus, wenn es einige Jahre auf dem Buckel hat, bringt manche Überraschung mit sich. Magische Momente ... die gibt es natürlich auch, aber genauso viel Arbeit. Axel Hacke erzählt in seinen Geschichten über die Menschen von Elba, beschreibt Landschaft, berichtet von Schlangen, Gottesanbeterinnen, Fakirtauben, Ziegendreck vor der Haustür, von olive und oliva und von einem Schreiner, der aus dem Ehebett heraus ein Wildschwein erschießt. Er erzählt von seiner Liebe zur Insel Elba im ligurischen Meer, gegenüber von Grosseto in der Toscana. Ein feines selbstironisches, humorvolles Buch für entspannte Stunden, Sommerfeeling. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke

Rezension - Nordische Wesen von Johan Egerkrans

Dieses Buch ist etwas für Fans von Märchen und Mythen, etwas für Skandinavienfans. Mit wundervolle n Illustrationen ist dieses Buch liebevoll gestaltet - ein Schmuckstück. Elfen, Wichtel, Meerjungfrauen, Riesen, Nixen, Trolle, Vitte und Vätte, Nöck und Michhase usw. Helfergeister, Gestaltwandler, Totenwesen und Ungeheuer, Riesenkrake, Drache, Lindwurm, Grollborste, Vorsich ist angesagt, wenn man die nordischen Gefilde besucht. Unter Spiritus verstehen die meisten Leute wohl etwas anderes – ich hätte gern einen. Ein schönes Geschenkbuch, ein Kunstband – auch für sich selbst. Weiter zur Rezension:    Nordische Wesen von Johan Egerkrans

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher

Rezension - Der war's von Juli Zeh, Elisa Hoven und Lena Hesse

  In der 6a ist ein Verbrechen geschehen: Marie, dem beliebtesten Mädchen der Klasse, wurden täglich die Pausenbrote gestohlen. Torben, sein Vater ist Polizist, meint, es wisse, wie man ermittelt und hat sofort Konradunter Verdacht. Der dicke Konrad ist neu in der Klasse und hat noch mit niemandem Freundschaft geschlossen. Statt auf dem Schulhof zu gehen, verbringt er die Pausen im Klassenraum. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Ein Kinderkrimi, ein Gerichtskrimi, der einen interessanten Inhalt zum Verständnis zur Bedeutung der Unschuldsvermutung und Verfahrensfairness zu vermittelt, zu erklären, wie eine Gerichtsverhandlung abläuft - aber mich als Gesamtkonzept nicht überzeugen konnte. Kinderbuch ab 8 Jahren. Weiter zur Rezension:    Der war's von Juli Zeh, Elisa Hoven und Lena Hesse