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Elly von Maike Wetzel - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Elly 

von Maike Wetzel


Der Anfang: Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus. Wenn ich diese Geschichte nun aufschreibe, ist das ein Versuch, sie zu bannen.

Bereits die ersten Sätze ziehen den Leser hinein in die Geschichte. Alles beginnt im Krankenhaus und hier geht es um Macht, um Manipulation – Kinder unter sich – hier wird geklärt, wer das Zepter in der Hand hält. Ein Vorspiel auf das, was nun folgen wird. Eine Erzählung, die bis zur letzten Seite nicht loslässt.

Ein Kind ist verschwunden

Ein familiärer Albtraum – Ein Kind verschwindet spurlos, eine Schwester. Eine Bilderbuchfamilie in Schockstarre. Eine Elfjährige fährt mit dem Fahrrad zum Sport und kommt dort nicht an. Das kann nicht sein, darf nicht wahr sein. Doch sie bleibt verschwunden. Wie verändert sich die Familie, wie verändern sich die Beziehungen untereinander und was geschieht mit dem verbliebenen Kind, der Schwester?

Ich war die große Schwester und erklärte Elly auch im Urlaub, was sie zu tun und zu lassen hatte. Wir bauten Hütten aus Zweigen und legten uns darin schlafen. Unsere Eltern fanden uns erst nach Sonnenuntergang. Sie waren nicht beunruhigt damals, nur amüsiert.

Worst Case, mit dem Tod kann man abschließen, aber nicht mit dem Unfassbaren, dem Nichts. Gedanken darüber was passiert sein kann, Hoffnung, es ist nicht das Ende. Judith und Hamit, die Eltern, Ines, die ältere Schwester, jeder ist in seiner Trauer letztendlich allein, in seiner Hoffnung – dem Abschließen. Maike Wetzel wechselt die Perspektive, die Familienmitglieder kommen zu Wort, der analytische Vater, die Tochter, die sich nicht mehr wahrgenommen fühlt, eine sich auflösende Mutter. Wie reagiert die Gesellschaft? Die Eltern werden verdächtigt. Hält die Familie zu ihnen? Was löst ein solches Ereignis aus in der Beziehung zwischen allen Beteiligten?

Heimlich bin ich wütend auf meine Schwester. Sie nimmt mir alles weg. Ich habe kein Recht, fröhlich zu sein, wenn meine Schwester leidet, wenn sie vielleicht tot ist, wenn sie allein in einen Kerker gesperrt, vergewaltigt, ohne Sonne, ohne vernünftige Nahrung vegetiert. Elly ist weg. Es gibt nichts anderes, was zählt.

Die Geschichte eine Essenz

Die Sprache ist knapp, die Geschichte eine Essenz, die Autorin konzentriert sich auf wesentliche Punkte, aber hier schlägt sie zu, hier trifft die Sprache, den Leser wie eine Faust. Maike Wetzel serviert uns Puzzleteile, passend, denn es sind Splitter im tiefen Schweigen, in der Betäubung, Schweigen besteht aus Stille, schreibt die Autorin. »Elly ist weg«, ein Satz, der sich durch den ganzen Roman zieht, sich ständig wiederholt, das zentrale Leid.

Elly ist fort. Wir haben noch Ines. Ich hoffe, sie bleibt.

Präzise Sprache, fein gewebt, atmosphärisch dicht, ein kleiner Roman mit nur 148 Seiten, große Schrift, Passagen, die mich immer wieder die Luft anhalten ließen und ein Roman, der am Ende eine Überraschung bereithält. Stille – Schweigen, aber alles ist in Bewegung, und sei es nur am Rande, der Vater ist Ingenieur für Rolltreppen, und in diesem Buch steht rein gar nichts still. Im ersten Augenblick scheint das zentrale Thema dieses Buchs Verlust zu sein. Aber wer genau hinsieht, erkennt dahinter das große Thema: Manipulation. Das verwebt die Autorin auf viele Art und Weise und sei es nur in kleinen Andeutungen. Innenperspektive, Außenperspektive, der Leser bekommt eine andere Wahrnehmung der Figuren. Und da ist Hamit, der Vater, der nicht mal Arabisch spricht, seinen Namen nicht richtig aussprechen kann, mit dem kehligen Halslaut, der behauptet, er sei Grieche, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Sein Aussehen, sein Name, die Lüge liegt sofort auf dem Tisch. Kann man so einem trauen?

Ich erfinde mich, ich spiele mich, täglich neu. Ich erzähle, um zu leben. Was stört, töte ich ab. Ich lausche auf die Herzen und erzähle den Menschen dann, was sie hören wollen. Ich lulle sie ein.

Elly ist zurückgekehrt

Vier Jahre später: In Dänemark wird am Strand eine verstörte, verwahrloste Jugendliche aufgegriffen. Die Beschreibung passt auf Elly. In der Entwicklungszeit verändert sich das Aussehen, in diesem Fall besonders, denn ein Kind, das missbraucht wurde, in Gefangenschaft gehalten, hat Schlimmes durchgemacht. Ist dieses verängstigte Wesen Elly? Wer soll es sonst sein, alles wird gut. Der Leser ist beruhigt ...

Maike Wetzel studierte an der Münchner Filmhochschule und in Großbritannien, arbeitet als Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Für ihr Romandebüt »Elly« erhielt sie den Robert Gernhardt Preis und den Martha Saalfeld-Preis. Ihre Erzählungen wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.






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