Rezension
von Sabine Ibing
Die Nachkommende
von Ivna Žic
Der Anfang: Sie schnarcht. Die junge Frau unter mir schnarcht, eine ganze Nacht hat sie geschnarcht, aus ihrer Liege kippen weiße Waden, Sommermückenstiche, sie schwitzt, ich schwitze, alle Stiche aufgekratzt, an den nackten Sohlen Wundpflaster und Striemen von Sandalen, blaue Venen, Haarstoppeln, Mundgeruch im Raum, Bitterkeit unter den Achseln.
Die Protagonistin ist eine Frau um die 30, reist im Zug von Paris nach Zagreb, es ist sommerlich heiß. Sie hat sich von einem Mann getrennt, es muss sein. Sie können nicht voneinander lassen, aber er ist verheiratet, und das wird so bleiben. Im Zug andere Reisende, auch dabei die Ahnen im Kopf: der Großvater, die Großmütter, die Tanten. Immerfort meldet sich das Handy: Wo bist du, wann kommst du?, der Mann, die Verwandten. Die Protagonistin antwortet nicht.
Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit.
Die Protagonistin floh als Kind mit ihrer Familie vor dem Krieg auf dem Balkan in die Schweiz. Sie wohnt vielleicht in Paris. Den Sommer verbringt die gesamte Familie jedes Jahr auf einer Insel. Die Gedanken springen kreuz und quer vom Jetzt in die Vergangenheit und wieder Zurück, Bruchstücke setzen sich langsam zusammen. Der Großvater ist immer dabei. Der Maler, der plötzlich aufhörte zu malen, alle Bilder zerstörte, bis auf das eine, von dem niemand weiß, wen die Frau darauf darstellt. Ein Bild, das in seiner Zeit in Paris entstand, wo er Kunst studierte. Nie ein Wort über den Zweiten Weltkrieg. Reisen, ankommen, abreisen, flüchten, den Ort wechseln, die Sprache wechseln, suchend, Grenzen verschwinden, neue Grenzen werden aufgebaut, verschwinden, neue Grenzen – grenzenlos. Verpflichtungen gegenüber der Familie, Tradition, zu Hause sein. Wo ist zu Hause?
Eine Sprache kommt von hier und und kommt nicht von hier. Wie soll sie hierher kommen, wenn sie dort war, wenn sie dort aufgewachsen ist, angewachsen an den Familienküchentisch weit weg, wo sie ein Sprache hinter der Türschwelle ist und sich ins eigene Fleisch frisst und doch ständig weiterspricht, mitspricht, Familiensprache, Küchentischsprache, die gepflegt wird, doch eine aufbewahrte Sprache lebt nicht wirklich, eine aufbewahrte Sprache entwickelt sich nicht, ist ein aufgebahrter offener Sarg, alles noch da, aber nichts passiert, nur der Gestank verbreitet sich langsam.
Der Roman ist eine sprachliche Perle. Wer in die Reise mit Zug und Bus von Paris nach Zagreb, nach Zürich und zurück einsteigt, wird nicht aussteigen, sitzenbleiben, bis das letzte Kapitel beendet ist. Aus dem Fenster geblickt huschen Landschaften vorbei, Gedanken ziehen gehetzt von hier zurück und wieder nach vorn, die Ahnen reisen mit und Fantasiegebilde. Die Sprache von Ivna Žic ist prägnant, verdichtet, Textvignetten, Parataxe. Gehetzt, schnell wie der Zug, dann ruhig, entspannt oder lückenhaft. Wenn man einmal zu lesen angefangen hat, kann man sich diesem Text nicht entziehen.
Die Sprache des Großvaters kommt aus einem weißen Bart heraus, der das Gesicht versteckt, der den Mund umrahmt und die Worte dämpft, der sie abfängt, seine wahre Sprache blieb hinter den weißen Barthaaren hängen.
Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende« wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.
Ivna Žic
Die Nachkommende
Roman
Matthes & Seitz Berlin, 2019, gebunden, 164 Seiten
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