Rezension
von Sabine Ibing
Ámbar
von Nicolás Ferraro
Der erste Satz
‹Du bist meine liebste Narbe›, sagt Papá und tätschelt die Stelle an seinem Unterarm, auf die er meinen Namen tätowiert hat: ÁMBAR.
An der Seite ihres Vaters Víctor Mondragón, einem gefährlichen Gangster, lebt die 15-jährige Ámbar zwischen einsamen Landstraßen und heruntergekommenen Motels. Gewalt und Kriminalität bestimmen ihr Leben. Wie gern hätte sie ein gemütliches Zuhause, Freunde, mit denen sie abhängen könnte, anstatt Víctors Schussverletzungen zusammenzuflicken oder das Auto zu fahren. Ständig wechseln sie ihre Tarnidentitäten, oft sind sie auf der Flucht, und Ámbars Habseligkeiten sind gefälschte Pässe und das wenige Geld, das sie heimlich für ein Tattoo spart, versteckt in einer alten Patrone, ihr «kostbarster Besitz» ein abgesägtes Gewehr, mit dem sie das ein oder andere Mal ihren Vater raushauen muss. Víctor lehnt Tatoos ab, weil sie bei der Polizei zur Identifizierung gehören. «Alles war zum Wegwerfen gedacht. Unsere Kleider. Unsere Identitäten. Immer wenn wir in ein neues Dorf oder eine neue Stadt kamen, legten wir uns neue Namen zu.» Der Umgang mit Waffen, Wundversorgung, Fluchtwege recherchieren, Schmierestehen, ist für sie so normal, wie für andere Kinder in ihrem Alter das Einräumen des Geschirrspülers. Ámbar ist früh erwachsen geworden.
Als ich zwölf war, hat Papá mir beigebracht, Kugeln zu entfernen und Wunden zu nähen. Mit dreizehn habe ich schießen gelernt und ein paar Monate später, wie man ein Auto kurzschließt. Wenn die Kugel glatt durchgegangen ist, besteht die einzige Gefahr in einer Wundinfektion durch Stoffreste oder Kugelsplitter. Ich schütte Wasserstoffperoxid darüber, bis rosa Schaum hervorsprudelt. Er flucht, aber das ist mir egal. Ich betrachte die Wunde näher. Das Eintrittsloch ist rund, das Austrittsloch sieht aus wie ein Schlagloch. Mittleres Kaliber, vermutlich 9 mm. Eine .45er hätte ein ganzes Stück Fleisch rausgerissen, bei einer . 22er wäre die Kugel stecken geblieben. Früher hat es mich irgendwann einmal überrascht - oder erschreckt -, dass ich so was weiß. Mittlerweile ist es selbstverständlich.„
Ámbars Mutter war abgehauen, hatte sie bei der Oma zurückgelassen und nachdem Großmutter Nuria einen Herzinfarkt erlitt, landet sie bei ihrem Vater, muss sich seinem Leben anpassen, in einer patriarchalischen Gesellschaft, die im Gangstermilieu besonders ausgeprägt ist. Der Kriminalroman beginnt, als Ámbar die Schusswunde ihres Vaters verarztet und den Fluchtwagen fahren muss. Víctor lenkt sie an einen bedeutungsvollen Ort, schüttet Benzin über den Wagen, der im Kofferraum den toten Giovanni beherbergt. Das Auto geht in Flammen auf, das dem besten Freund Víctors zur Urne wird. Giovanni wurde durch den Auftragsmörder Robert Alvarado Saorias getötet, der sich Mboi nennt. «Der, von dem ich rede, wollte Giovannis und meinen Tod. Und zur Hälfte hat er es geschafft.» Víctor sinnt auf Rache! Und auf der Suche nach Mboi ist er nicht zimperlich, denn niemand macht freiwillig den Mund auf. Aber um zu erfahren, wer den Mord an Giovani und Victor beauftragt hat, muss er für eine Drogenbaronin gestohlenes Kokain zurückholen. Ein gefährliches Unterfangen.
So vergingen drei Jahren, bis Großmutter Nuria einen Herzinfarkt hatte. An einem Tag war sie da, am nächsten war sie Asche. Und auf einmal hatte Papá mich am Bein und wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte. Er weiß es immer noch nicht.
Ein Coming-of-Age-Roman, ein Road Movie das in der Grenzregion zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay spielt, ein knallharter Noir-Gangsterroman, der mit viel Emotion aus der Sicht von Ámbar geschrieben ist, die zwar mit Victor mitreist, aber eigentlich nicht viel über ihn weiß, auch aus seinen Plänen hält er sie völlig heraus. Eigentlich hat sie das Leben satt, sie würde gern zur Schule gehen, ein geregeltes Leben führen. Und sie durchlebt eine vielschichtige Entwicklung, als sie nun in die Lebensgeschichte ihres Vaters blickt, während sie auf der Suche nach Mboi alte Orte aufsuchen. Ámbar verliebt sich und sie versteht plötzlich Zusammenhänge, erkennt die Bedeutung ihres Namens – entfernt sich emotional immer weiter von ihrem Vater. So ganz nebenbei arbeitet Nicolás Ferraro auch Gesellschaftskritisches ein, die Entstehung von Gewalt, die Ausgrenzung von Ethnien am Rande der Gesellschaft. Prosa mit intensiver expressiver Sprache einer Fünfzehnjährigen, die sich persönlich entwickelt, alles eingebunden in Noir, Hardboiled – eine besondere Kriminalliteratur. Empfehlung!
Den ersten Elfmeter schießt Boca. Ich habe die Schnauze voll von Boca. Von River. Von Rata Blanca, davon, dass sie sich alle für so schlau und mich für ein dummes kleines Mädchen halten. Ich drücke ab. Splitter des Fernsehers verteilen sich im Raum, zusammen mit Stille. Jetzt endlich sehen mich alle an. Ich stoße ein Brüllen aus, und in diesem Brüllen bin ich weder Mann noch Frau noch Tochter. Ich bin ein Jaguar.
Nicolás Ferraro wurde 1986 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und studierte Grafikdesign. Heute arbeitet er in der Abteilung für Kriminalliteratur der Nationalbibliothek. Er entdeckte das Noir-Genre für sich und schrieb daraufhin seinen Debütroman »Dogo«, der 2016 veröffentlicht wurde und Finalist beim Extremo Negro Award war. Mit »Ámbar« (2023) gewann er den renommierteren Premio Hammett. Seine Romane wurden auch ins Portugiesische, Französische, Italienische und Englische übersetzt.

Ámbar
Originaltitel: Ámbar, 2021
Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Kirsten Brandt
Kriminalroman, Kriminalliteratur, Noir, Hardboiled, Coming-of-Age-Roman, Roadmovie, Gangsterroman, Lateinamerika
Taschenbuch, 214 Seiten
Pendragon Verlag, 2025
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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