Rezension
von Sabine Ibing
Die Kronzeugin
von Alexandra Cavelius und Sayragul Sauytbay
Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft
Die Welt muss erfahren, was in den Lagern vor sich geht und was die Partei wirklich plant.
Die KP Chinas hat ein umfassendes Überwachungssystem in Ostturkestan geschaffen und unser Land in ein Freiluftgefängnis verwandelt. Ohne Erlaubnis dürfen die Menschen keinen Finger rühren. Jede Bewegung, jeder Schritt wird streng kontrolliert. Die Menschen leben in ständiger Angst. In meiner Heimat gibt es kein normales Leben mehr.
Diese Biografie ist spannender als jeder Thriller – erschütternd, brutal und dieses Buch macht wütend. Das Buch entstand auf der Basis der vielen Interviews, die Sayragul Sauytbay gab. Es ist eins zu wissen, dass es diese Lager gibt, aber etwas anderes, zu lesen, was dort geschieht! Triggerwarnung: Es dreht dir den Magen um! Sayragul Sauytbay wächst im chinesischen Bereich von Usbekistan auf; ihr Großeltern sind Nomaden, die Sprache ist usbekisch, die Religion ein moderater Islam. Als Sayragul noch klein ist, wird die Familie sesshaft, betreibt Ackerbau und Viehzucht. Immer mehr Chinesen kommen in die Region, besetzen die landwirtschaftlichen Zonen, siedeln sich an, fangen an, ihre Verwaltungsmacht auszuspielen, machen Vorschriften. Mit guten Noten ist es Sayragul möglich, ein Medizinstudium abzuschließen. Mit ihrem Lohn kann sie die Familie unterstützen. Die Uiguren erfahren die gleiche Unterdrückung, zetteln aber einen Aufstand an, der blutig niedergeschlagen wird.
Kasachisch verboten
Am Abend des Aufstands hatten Soldaten von den Militär-Lkws unzählige Menschenkörper ins Krematorium geschleppt und wie Abfall zu Boden geworfen. ... Unter den Toten waren Verletzte, die noch gelebt haben. ... Aus dem Leichenberg dran Stöhnen: ‹Hilfe!› und Hände streckten sich ihr entgegen. Die Polizisten hätten die Hände einfach mit ihren Stiefeln zurückgeschoben. Und dann hätten sie alle in den Ofen geworfen.
Als ihre Mutter jedoch schwer erkrankt, kehrt Sayragul nach einiger Zeit wieder in ihr Heimatdorf zurück, lässt sie sich zur Lehrerin umschulen und wird Direktorin mehrerer Kindergärten. Sie muss Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas werden. Die stärkste Veränderung tritt nun für die Bevölkerung ein. Das Beten wird verboten, es ist verboten Kasachisch zu sprechen – aber die Menschen beherrschen keine andere Sprache. Chinesische Namen werden eingeführt, «aus Hussein wird Wu». Bärte müssen abgenommen werden, ebenso Gebetsmützen und Kopftücher; Kindern wird im Kindergarten der Mund für den Rest des Tages mit Klebeband fixiert, sowie sie ein Wort Kasachisch sprechen, Gruppentreffen sind verboten, wer sich mit Freunden treffen will, stellt einen schriftlichen Antrag. Immer mehr Menschen flüchten nach Kasachstan. Nun werden die Reisepässe eingesammelt. Der Mann von Sayragul ist schwerbehindert, kann seinen zunächst behalten, wie auch die Kinder. Darum beschließt die Familie: Er und die beiden Kinder sollen Verwandte in Kasachstan besuchen – mit der Absprache, nicht zurückzukehren. Glück, denn nun werden alle Pässe eingesammelt.
Der chinesische Gulag
Blaugeschlagene Augen, verstümmelte Finger, dunkle Flecken überall … Akademiker, Bauern, Künstler, Studenten, Geschäftsleute … Etwa 60 Prozent waren Männer, zwischen 18 und 50 Jahren. Der Rest Mädchen, Frauen und Alte ... In jedem dieser Gesichter stand die blanke Angst. Alle Lichter in ihren Augen waren erloschen.
Nun wird immer eine Person der Kasachen bestimmt, die eine chinesische Familie besuchen und mit ihnen alle Mahlzeiten einnehmen muss – auch Schweinefleisch. Der Chinese muss einen Fotobeweis an die Partei senden. Es gipfelt dann darin, dass in jeder Familie eine (junge) Frau bestimmt wird, die einen alleinstehenden Chinesen besuchen muss, auch über Nacht zu bleiben hat ... Ständig werden Menschen zum Verhör abgeholt, manche kommen nie wieder. Sayragul wird plötzlich abgeholt, ihr wird eine Tüte über den Kopf gezogen. Sie landet in einem Ausbildungslager – hier soll sie als Lehrerin arbeiten. Sie schläft auf Beton, ihre Zelle ist ständig hell erleuchtet und von fünf Kameras überwacht, der Schlaf, den man ihr gönnt, ist kurz. Sie muss die Gefangenen auf Parolen des Umerziehungsprogramms einschwören wie z. B. «Ich bin stolz darauf, ein Chinese zu sein», «Hoch lebe Xi Jinping». Die Menschen müssen fortlaufend ihre Vergehen bestehen. An jedem Freitag gibt es Schweinefleisch zu essen. Und sie berichtet von grausamen Folterungen. Es ist schwer zu verdauen, was hier berichtet wird. Die Akten von jungen starken Männern sind mit einem roten X versehen und sie verschwinden. Man nimmt an, dass sie chinaweit in die bekannten Arbeitslagern untergebracht werden und / oder womöglich der Organspende dienen. Als Staatsbeamte wird die Lehrerin ständig mit neuen Anweisungen konfrontiert, die sie zu lesen und auszuführen hat; das Papier wird hernach verbrannt. Sie muss eine Geheimhaltung unterschreiben. Eines der Dokumente ist das Staatsprogamm bis 2055, wonach in Stufe eins alle die zu eliminieren sind, die nicht zur Umerziehung bereit sind.
Auch in Kasachstan ist sie nicht sicher
Zweite Stufe: 2025 bis 2035: Nach der Assimilierung in China folgt die Besetzung der Nachbarländer. ... Dritte Stufe: 2035 bis 2055: Nach der Verwirklichung des chinesischen Traums folgt die Besetzung Europas.
Das Projekt Seidenstraße ist der Weg. Das Vergeben großer Kredite, der Aufkauf von Firmen, insbesondere der von Medien, IT-Produkten und sonst wichtiger Faktoren wie Krankenhäuser, Versorgung, Immobilien usw. dient dazu, immer mehr Macht in anderen Ländern zu erhalten. Sayraguls Sauytbays wird plötzlich wieder nach Hause gebracht, aber sie wird gekündigt; jemand steckt ihr ihre bevorstehende Verhaftung. Nun gibt es nur noch einen Weg: ohne Pass nach Kasachstan flüchten. Es gelingt; sie ist mit der Familie vereint. Der lange Arm Chinas reicht bis hierher. Weil sie illegal eingereist ist, wird ihr Asylantrag abgelehnt und sie wird inhaftiert. Dank der kasachischen Menschenrechtsorganisation Atajurt, der Vereinten Nationen und Amnesty International wird ihr Fall weltweit öffentlich und es gibt einen Prozess, der beeindruckend ist. Sie erhält befristetes Asyl für kurze Zeit; dann wird aber wieder die Abschiebung nach China ausgesprochen. Zum Glück bekommt die Familie im Juni 2019 von Schweden Asyl, wo sie heute lebt. Die zurückgebliebene Familie wird nun Sayraguls Sauytbays in die Zange genommen, ihre Mutter und eine Schwester verhaftet.
Die Unterwerfung von Europa und dem Rest der Welt ist angestrebt
Dieses Virus» (Covid) «wird sich zurückziehen. ... Aber das faschistische ‹Gedankenvirus› aus China wird sich weiter auf der ganzen Welt verbreiten, wenn wir nicht endlich gegensteuern und den Menschenrechten mehr Bedeutung beimessen als den ökonomischen Interessen.
Was hier zu lesen ist, geht hart an die Nieren. China ist ein faschistischer Staat, das steht fest, ebenso, dass die Grausamkeiten der Wahrheit entsprechen die in sogenannten «Bildungszentren» begonnen werden. Die größten Gulags unserer Zeit befinden sich in China, circa drei Millionen Alte, Frauen und Kinder sind derzeit interniert. Stalin lässt grüßen! Sayraguls Sauytbays ist nicht die einzige Augenzeugin. Folterung der übelsten Art, der Genozid an der muslimischen Bevölkerung der Uiguren und Kasachen ist nur der Anfang. Totale Überwachung, Haft für die, die sich kleiner «Vergehen» schuldig machen, wie z.B. das Beten. Letztendlich ist das nur der Anfang. Über das Seidenstraßenprojekt werden großzügig Kredite vergeben, um Länder abhängig zu machen. Die Unterwerfung von Europa und dem Rest der Welt ist angestrebt. Dieses Buch sollte jeder Europäer lesen, um sich bewusst zu werden, was China wirklich plant! Und dann sollte sich jeder überlegen, ob er noch weiter Produkte kauft, auf denen «made in China» steht. Leider kann man es nicht immer vermeiden, weil es nicht unbedingt draufsteht, nicht immer gibt es Ersatzprodukte. Ich jedenfalls werde es auf jeden Fall vermeiden, wenn es irgendwie möglich ist. Wir müssen wach bleiben! Keine Macht der Überwachung, keine dem Faschismus!
Sayragul Sauytbay, geboren 1977 in dem autonomen kasachischen Bezirk Ili in der chinesischen Provinz Xinjiang, studierte Medizin, arbeitete zunächst als Ärztin in einem Krankenhaus und wurde später vom chinesischen Staat als Direktorin für mehrere Vorschulen eingestellt. Als die chinesische Regierung massiv gegen uigurische und kasachische Minderheiten vorgeht, reisen ihr Mann und ihre Kinder 2016 nach Kasachstan aus. Sie selbst erhält kein Ausreisevisum, wird mehrmals verhört, schließlich verhaftet und in einem Umerziehungslager gezwungen, als Ausbildern zu arbeiten. Dadurch erhält sie Einblick in das Innerste dieses Systems. Als man ihr nach drei Tagen in Freiheit erneut das Straflager androht, flieht sie nach Kasachstan, wo ihr Prozess zu den größten Protesten in der Geschichte des Landes führt, denn auch in Kasachstan vermissen Tausende Menschen ihre Verwandten in den Straflagern Xinjiangs. Trotzdem wird sie monatelang inhaftiert, ehe Schweden ihr und ihrer Familie Asyl gewährt. 2020 wird sie vom Außenministerium der USA mit dem International Women of Courage Award ausgezeichnet, 2021 erhielt sie den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis, der 2022 – aufgrund der Corona-Pandemie mit leichter Verspätung – an sie vergeben wird.
Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin. Sie publizierte in renommierten Magazinen und schrieb in mehrere Sprachen übersetzte Bestseller wie Die Himmelsstürmerin und Leila – ein bosnisches Mädchen. Zu ihren jüngsten erfolgreichen Werken zählen die Geschichte der Jesidin Shirin Ich bleibe eine Tochter des Lichts oder Die Psychologie des IS. Letzteres hat sie in Zusammenarbeit mit dem international anerkannten Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan verfasst. Es folgte die Biografie über Sayragul Sauytbay: Die Kronzeugin, die Cavelius auf Basis vieler Interviews aufgezeichnet hat. Zuletzt erschien auf der Grundlage ihrer vielfachen Recherchen über Krieg, Glauben und Ideologien der Historienroman Die Assassinin.
Die Kronzeugin
Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft
Biografie, China, politische Bildung, Menschenrechte, Uiguren, Kasachen, Xinjiang, Faschismus
Gebunden mit Schutzumschlag, 352 Seiten, mit zahlreichen Fotos
Europa Verlag, München 2020
Wie ich das chinesische Lager überlebt habe von Gulbahar Haitiwaji und Rozenn Morgat
Seit Jahren lebt Gulbahar Haitiwaji mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Paris. Eines Tages erhält sie einen Anruf aus Xinjiang: Sie müsse dringend nach China kommen, um Dokumente für ihre Rente zu unterschreiben, das persönliche Erscheinen sei unumgänglich. Gulbahar Haitiwaji bucht eine zweiwöchige Reise und landet im Gefängnis. Sie ertrug Verhöre, Folter, Hunger und kafkaeske Zersetzungsmethoden, kehrt erst drei Jahre später zurück. Der Vorwurf: Man zeigte ihr ein Foto. Ihre Tochter sei eine Terroristin, da sie an einer uigurischen Versammlung in Paris teilgenommen hatte. Peking nennt die Gefängnisse «Ausbildungszentren». Eine unabhängige internationale Untersuchung der Lager ist nicht zugelassen. Völkermord, Genozid in China, das Auslöschen von Kulturen und Religionen, eine tägliche Verletzung der Menschenrechte.
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Sachbücher
Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
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