Direkt zum Hauptbereich

Die Jagd nach dem Blau von Romain Gary - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Die Jagd nach dem Blau 

von Romain Gary


›Onkel, diese Pariser haben sich über Sie lustig gemacht, sie haben gesagt, Sie seien übergeschnappt.‹
Ambroise Fleury schien nicht im Entferntesten beleidigt.
›Ach ja,? Das haben sie gesagt?‹
Da schleuderte ich ihm aus der Höhe meiner ein Meter vierzig diesen Satz entgegen, den Marcellin Duprat einmal über ein Kundenpaar fallen ließ, das sich über die Rechnung beschwerte: ›das sind Leute niederer Herkunft!‹
Es gibt keine Menschen niederer Herkunft‹, sagte mein Onkel. ›das ist es, was du wissen musst, wenn du ein guter Postbeamter werden willst, Ludo.‹

Der Charme des Altmeisters der französischen Literatur klingt auch noch heute frisch und frech, und wie Romain Gary unliebsame Alltagssituationen in Humor verpackt ist unglaublich. In diesem Buch geht es um Ludovic, genannt Ludo, der bei seinem Onkel Ambroise Fleury aufwächst, ein Briefträger, der in seiner Freizeit Lenkdrachen herstellt und verkauft, fantasievolle Himmelswesen steigen lässt. Auch Ludo ist vom Familienfluch belegt: Er kann nichts vergessen. Gut für die Schule, denn ellenlange Zahlenreihen sind kein Problem für ihn. Der Onkel meint, ein so schlauer Junge solle später Postbeamter werden, die beste Berufswahl. In den Sommerferien reisen die Bronickis an, eine polnische Adelsfamilie, die den Sommer in ihrer Villa in der Normandie verbringt. Ludo freundet sich mit Lia an, der Tochter der Bronickis.

Der Onkel baut die schönsten Drachen: Blauer Vogel, Zitterbacke, sein Liebling ist Jean-Jacques Rousseau. Später wird er aus Protest gelbe Sterne gen Himmel fahren lassen. Und eine Schar von drei jungen Kerlen sich versammelt sich im Sommer verliebt um Lila: Ludo, der Franzose ohne Stand, Tad, der feine Engländer und Hans, der Deutsche von Adelsgeschlecht. Lila liebt alle drei. Ludo zeigt sich geschickt im Umgang mit Zahlen und so lädt Graf Bronicki ihn in einem Jahr nach Polen ein, für ihn über die Sommerferien zu arbeiten. Bei diesem Besuch zeigt er Ludo klar auf, dass er auf keinen Fall den Stand besitzt, um Lila ehelichen zu können, die in Königsfamilien einheiraten kann. Zu dem Zeitpunkt glaubt auch niemand, dass Deutschland den Polen den Krieg erklären wird. Doch kaum ist Ludo zurück in Frankreich, haben die Deutschen Polen einkassiert.

Ich war ganz sicher, dass Tad sich irrte, und bemitleidete ihn ein wenig. Er liebte die ganze Menschheit leidenschaftlich, aber im Grunde hatte er keinen einzigen Menschen. Er glaubte an das Unglück, weil er allein war. Zur Hoffnung gehören immer zwei. Alle Gesetze der großen Zahlen gehen von dieser unverrückbaren Wahrheit aus.

Eine Zeit lang ist der Kontakt zwischen Ludo und Lila unterbrochen, denn die Bronickis, Juden, mussten Hals über Kopf vom polnischen Gut fliehen. Ludo gibt nicht auf, sucht nach Lila. Der Krieg ist nun auch in Frankreich angekommen und die Normandie ist besetzt. Ludos phänomenales Gedächtnis kommt der Résistance zu Gute. Er kann sich Unmengen an Zahlen, Namen und Adressen, Notizen merken, ohne sie aufzuschreiben. Ludo arbeitet als Kurier. Ab diesem Zeitpunkt wird der Roman sehr spannend und tragisch.

Ich liebe dich. Aber das bedeutet nicht, dass alles andere zu Ende ist. Ich will nicht deine bessere Hälfte werden. Kennst du diesen grässlichen Ausdruck?

Die Liebesgeschichte ist Nebensache, Romain Gary schreibt eine Proklamation der Menschlichkeit. Die  unterschiedlichsten Charaktere in diesem Roman sind exzellent gezeichnet. Nicht alle Deutschen sind schlecht und nicht alle Franzosen sind gut. Gary unterscheidet Menschen, Charakter und das, wovon der Einzelne getrieben wird, wozu er gezwungen wird. Sehr interessant ist die Figur Marcellin Duprat, ein genialer Koch, der von den Landsleuten verachtet wird, als feige und egoman bezeichnet, weil er sein Gasthaus aufrecht erhält, in knappen Zeiten mit hochwertiger Ware arbeitet – und das für die Deutschen. Marcellin Duprat ist es egal, für wen er kocht, wenn die Gäste seine Kunst würdigen. Und die Kunst der Küche kann man nur auf hohem Niveau fahren. Ihm geht es um die französische Küche, die nicht verloren gehen darf. Aber gleichzeitig ist er mutig, frech, indem er mitten unter den Deutschen Gästen einen weiteren Gast drapiert, der von ihnen gesucht wird: ein abgeschossener Pilot. Wer würde ihn hier vermuten? Duprat bezeichnet sein Restaurants Clos Joli, für das er drei Sterne erhalten hat, als »letzten Bastion des echten Frankreich«.

Der Roman ist ein Liebesroman – Gary ruft auf zu Menschenliebe, Menschlichkeit, wie in allen seinen Büchern. Poetisch und mit unglaublicher Leichtigkeit beschreibt er die Schrecklichkeit des Krieges, der Judenverfolgung, erzählt vom französischen Widerstand. Auch Drachen können ein Zeichen von Widerstand sein, auf ihrer Jagd nach den Blau. Ich freue mich sehr, dass der Schweizer Rotpunktverlag Garys Romane neu übersetzt und Stück für Stück neu auflegt. Wer Gary noch nicht kennt, sollte ihn unbedingt lesen.

Romain Gary war nicht nur schlicht ein Schriftsteller, er war eine schillernde Persönlichkeit. Wer etwas über Gary und den größten Skandal der französischen Literaturgeschichte lesen möchte, dem empfehle ich, meine Rezension  »Du hast das Leben vor dir«. Am Ende  gibt es einige Zeilen zu Gary und dem faustdicken Skandal um einen Literaturpreis zu lesen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo