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Der Italiener von Carlo Bernasconi - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Der Italiener 


von Carlo Bernasconi 


Der Wind gehört dazu, der über die Reben flieht, er nimmt die Wörter aus dem Fenster, nimmt das ganze Leben mit und trägt es fort, über Pappelreihen, hinterlässt eine Regenwand. Wasser, das vom Himmel fällt und die Luft reinigt. Als hinter dem Fenster die Vorhänge gezogen werden, das Licht ausgeht, ziehen die Wolken nordwärts den Dolomiten zu, zeigt sich Stern um Stern am Himmel. Die Rosenblätter bekommen ihre Farbe zurück, die Trauben ihren Zucker, unten vor der Eingangstüre zum Hotel, legt eine engelsgleiche Gestalt ein Bilderbuch hin.


Michele D’Ambrosio kehrt Ende der 60er Jahre zurück ins Land seiner Vorfahren: Italien. Er besteigt den Zug in Zürich und fährt in den Veneto nach Treviso. Die Reise durch die weite Landschaft zu Cousin Piero und seiner Tante Giovanna wird eine Erinnerung an die Großeltern, die als Arbeitsmigranten um 1920 in die Schweiz kamen, an die Eltern der nächsten Generation. Im reichen Veneto herrschte zu dieser Zeit bei der Landbevölkerung große Armut. Doch der Wechsel nach Zürich änderte nicht viel für das junge Paar. Schlecht bezahlt kam die Familie gerade so zurecht in der Zürcher Langstrasse, die damals von vielen Italienern bewohnt wurde – ein Armutsviertel. Mit sich führt Michele die Briefe von Pia seiner Großmutter, die nach dem 1. Weltkrieg aus Zürich an ihre Schwester Amalfa ins Veneto schrieb an. Die Tochter Giovanna, die an Schizophrenie erkrankte, verließ 1939 die Schweiz, kehrte ins Veneto zurück. «Was verbirgt sich hinter dem Schicksal von Tante Giovanna?», fragt sich Michele. Er sucht nach Antworten.


Die Briefe von Pia berichten aus dieser Zeit


[die Eltern] waren immer beschäftigt, Mutter mit uns Kindern und Vater mit Geldverdienen und mit der Politik, sodass ich viel allein war mit den Kindern unserer Strasse, doch sie liebten uns nicht, weil wir anders waren, weil wir italienisch sprachen und nicht zürichdeutsch … 

Ich habe jetzt gemerkt, dass wir nicht willkommen sind in diesem Land. Sie brauchen uns, weil wir stark sind und uns nichts zu sagen getrauen, meint Antonio. Wir hätten hier zu arbeiten und ruhig zu sein.


Es ist die Zeit der beiden Weltkriege, auch eine Geschichte vom Scheitern der sozialen Integration. Die Einwanderer blieben einerseits unter sich, aber andererseits gab es auch keine Akzeptanz der Schweizer. Die Sehnsucht nach der Heimat lässt nie nach, die Lebensumstände, niemals aus der Armut herauszukommen, mangelnde Bildung, lässt Depressionen spürbar werden. Die Männer sind politisch aktiv in der italienischen sozialistischen Arbeiterbewegung in Zürich, und als der Duce in Italien nach der Macht greift, spaltet sich das Lager der Migranten in Sozialisten und Nationalisten, die sich spinnefeind gegenüberstehen. Die Frauen versuchen, das Geld zusammenzuhalten, streiten darüber «wie viel Luigi und Nunzio wieder in den Spelunken … liegengelassen haben, während die Frauen zu Hause jeden Franken zusammenkratzen, damit mittags und abends ein Teller Polenta für jeden auf dem Tisch steht.» In der Schweiz ist man zwar sicher, doch auch hier geht die Angst um, dass Hitler das Land überfällt. Die Briefe von Pia berichten aus dieser Zeit. Zwei Familienstränge, eine Hälfte in die Schweiz ausgewandert, die andere in der Heimat verblieben. Michele ist auf der Suche nach den Wurzeln der Familie.


Ein Roman mit Nachhall


Aber auch hier im Veneto schießen Pizzerias aus dem Boden, doch ihnen lässt sich ausweichen, in Zürich kaum noch. Immer die gleichen Sossen zu den Teigwaren, den scheinbar hausgemachten: Essen ohne Liebe und Hingabe zubereitet, aus Büchsen und getrockneten Kräutern, ein Gemisch von südlichen Düften zusammengestellt. Kein Koch dem mehr einfiele, nichts von der hier ansteckenden Lust nach Variationen …


Michele wollte einst Koch werden, wurde dann aber Dolmetscher; doch das Kochen ist sein Hobby geblieben. Und er erzählt in literarischer Form über die Zubereitung seine Lieblingsgerichte, dass es eine Lust zum Lesen ist, wie z.B. über das Forellenrisotto; oder die überbackenen Auberginen mit Tomaten und Garnelen. Eigentlich ist er ins Veneto gefahren, um mehr über die Zubereitung der traditionellen Rezepte seiner Familie zu erfahren. Eine Enttäuschung für ihn, denn hier ist kaum noch etwas traditionell. Und auch die Sprache macht dem Schweizer Dolmetscher für Italienisch zu schaffen: Er versteht die Verwandtschaft kaum, die im Dialekt des Veneto sprechen. Ein Roman der 1987 erschien, der die Zeit der großen italienischen Einwandererwelle in die Schweiz beschreibt, ein Zeitdokument. Ein Michele der dritten Generation, der seine Wurzeln entdecken will und arg enttäuscht ist. Die Zeit ist in Italien nicht stehengeblieben. Wundervoll poetisch geschrieben, eine Hommage an die italienische Küche ganz nebenbei, ein Roman mit Nachhall. Empfehlung!


Carlo Bernasconi (1952–2016) war ein Zürcher Journalist, Restaurator, erfolgreicher Kochbuchautor – und als Schriftsteller der Chronist seiner Generation. Zu seinen literarischen Werken gehören der Gedichtband »Die Liebenden« (1987) sowie die Romane »Der Mann« (1983) und »Mann ohne Schatten« (1996). Mit dieser posthumen Neuausgabe seines Romans »Der Italiener«, der 1987 erstmals erschien, kann eine wichtige Schweizer Stimme wiederentdeckt werden.



Carlo Bernasconi (1952-2016)
Der Italiener
Zeitgenössische Literatur, Migration, Italien, Schweiz
Taschenbuch, Neuauflage [erstpublikation 1987], 170 Seiten
Telegramme Verlag, 2023




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Weiter zur Rezension:  Die Krume Brot von Lukas Bärfuss


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