Rezension
von Sabine Ibing
Der blonde Hund
von Kerstin Ehmer
Ein Fall für Kommissar Spiro, Band 3
Ich bin ein Freund von Sitte, Anstand und Moral. Und nichts davon kann ich hier sehen, nein die Ordnungszelle des Deutschen Reichs ist München, meine Stadt. In Berlin regiert der Mob, hier spielen die zahlreichen Köpfe der Hydra ihr perverses Gift. Verfall und Entartung auf Schritt und Tritt. Berlin ist eine Kloake.
Berlin im November 1925: Eine Leiche wird aus einem Berliner Kanal gezogen. Schnell ist geklärt, der Journalist, der für den «Völkischen Beobachter» geschrieben hat, ist einer Gewalttat zum Opfer gefallen. Kommissar Spiro und sein Team tappen im Dunkeln, finden keine Spur. Plötzlich taucht der Ausweis eines Jungen auf, der in Verbindung zum Toten stand. Aber der «blonde Hund», wie er genannt wird, ist in München untergetaucht. Spiro muss reisen. Seine Freundin Nike, eine Ärztin, immer wissenschaftlich interessiert, treibt sich derweil in den spirituellen Kreisen von Berlin herum und nimmt an Séancen teil. Alles Hokuspokus? Und sie taucht ein in ganz andere Kreise im Babel Berlin, in die Sado-Maso-Szene, will herausfinden, wer in Berlin junge Männer missbraucht und widerwärtig verletzt.
Die Zwanziger gut eingefangen
Zehn Meter weiter stochern zwei magere Jungen mit Stöcken im aufgeblähten Kadaver einer Ratte. ‹Mensch, kieck ma. Die hat Gummi jefressen.› Ein Invalide ohne Beine schiebt seinen heruntergekommenen Torso auf einem Rollbrett an ihnen vorbei, worüber zwei entgegenkommende Damen die feinen Näschen über den Silberfüchsen rümpfen …
Im Berlin und München der 20er Jahre schwelt untergründig der Niedergang der Demokratie. Eine geheime Gruppe plant den Umsturz; ihnen voran ein kleiner Mann mit Bärtchen, der in München die Massen mobilisiert, das Arische beschwört und gegen Juden hetzt. Raubeine, die versuchen mehr Anhänger zu gewinnen, salonfähig zu werden, und sie werden vom Adel unterstützt, der sich die Kaiserzeit zurücksehnt. Der ermordete Journalist, Mitglied der NSDAP, hatte sich einen Waisenjungen, den er «Canis» nannte, wortwörtlich abgerichtet, ihm zu dienen. Ist er der Mörder? Zumindest weiß er etwas über das Tatgeschehen. Spiro macht bei der Suche nach ihm einen Ausflug ins Völkische, auf Himmlers Spuren im Kreis der Jugendbewegung der Artamanen, bereist verschiedene Orte in Sachsen und Ostpreußen. Auf der Suche nach dem «blonden Hund», wie man Canis in diesem völkischen Siedlungsbund nennt, begleitet ihn ein amerikanischer Journalist. Auch ein Abstecher in die Anthroposophie Rudolf Steiners ist in diesem Roman eingebunden, einschließlich der Erfindung der Globuli und der Waldorfschule.
Exzellenter historischer Krimi
Die letzte Nacht habe ich mit dem völkischen Beobachter verbracht, ihrem Zentralorgan. Lügen, Unterstellungen, Geschichtsklitterung und vor allem Hass, der zwischen den Zeilen hervorbrodelt, Hass auf die Slawen, die uns bedrängen, die Zigeuner, die uns beklauen, die Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen, die uns aussaugen, die Juden und alle anderen Religionen auch, die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Zentrumspartei und sämtliche Wissenschaften.
Spannend und sehr atmosphärisch begeben wir uns mit Kerstin Ehmer in das geschichtsträchtige Berlin, tauchen ins politische und gesellschaftliche Leben ein. Aus dem Untergrund heraus etablieren sich immer mehr die frechen, brutalen Anhänger der die NSDAP. Auch das Kriminalkommissariat scheint von ihnen zersetzt zu sein, Spitzel berichten an die Führung. Wie wird es weiter gehen für Ariel mit seinem jüdischen Vonamen und mit seiner jüdischen Freundin Nike? Wieder ein exzellenter historischer Krimi aus der Weimarer Zeit um Kommissar Ariel Spiro. Absolute Empfehlung – natürlich für die gesamte Reihe!
Deutsch muss er sein. Reindeutsch und erbgesund und er muss arbeiten können. Es ist kein Zuckerschlecken. Morgens um sechs raus aufs Feld und danach das Artamheim ausbauen.
Kerstin Ehmer arbeitete als Mode- und Porträtfotografin. Seit 2001 betreibt sie gemeinsam mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. 2017 erschien mit »Der weiße Affe« ihr erster Kriminalroman und ihr erster Fall mit Kommissar Spiro. Es folgten die Bände »Die schwarze Fee« (2019) und »Der blonde Hund« (2022).
Der blonde Hund
Ein Fall für Kommissar Spiro, Band 3
Krimi, Kriminalroman, historischer Krimi, Polizeikrimi
Taschenbuch, 464 Seiten
Pendragon Verlag, 2022
Die schwarze Fee von Kerstin Ehmer
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Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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