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Bring mich nach Hause - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Bring mich nach Hause 

von Jesús Carrasco


Der Anfang: 

In der Nacht, in der sein Vater starb, hätte er bei ihm sein können, aber in gewisser Hinsicht war es Juan Álvarez anders lieber. Nicht dass er es sich ausgesucht hätte, in diesem entscheidenden Moment so weit weg von ihm zu sein. Er machte nur einfach mit dem weiter, womit er gerade beschäftigt war, ohne die beständig eintreffenden Hinweise als dringlich zu erachten, die seine Schwester Isabel ihm in den vorangehenden Wochen immer wieder geschickt hatte – bis sie ihn irgendwann gar nicht mehr informierte.


Juan ist studierter Forstwirt. Und weil er keinen Job in seinem Beruf bekam, ist er von Spanien nach Schottland gezogen. Hauptsache weit, weit weg von zu Hause. Das ärmliche Heim seiner Eltern ödete ihn an, verfangen und verkrustet in einer vergangenen Welt. Sein Vater hatte sich in einer Mine krankgeschuftet, war ebenfalls von zu Hause abgehauen. Als Frührentner kehrte er ins Elternhaus zurück, kümmerte sich um seine Eltern – wie es Sitte und Anstand vorschreibt. Trotz Staublunge gründete er im Dorf eine Firma – Türenbau – und er aktivierte die vernachlässigten Felder der Familie. «Elf Monate, nachdem er aufgehört hatte, Asbest einzuatmen, begann er Sägemehl einzuatmen.» Juan sollte das übernehmen. 


Nur zur Beerdigung - dann zurück

Nie im Leben! Bloß weg von hier! Und so landete der junge Spanier in Edinburgh. Ohne sonderliche Sprachkenntnisse arbeitete er zunächst als Besteckreiniger. Später schaffte er es, als Hilfsgärtner eine Stelle zu erlangen – kein Handschlag, der nicht genehmigt wurde – nicht mal ein Blatt darf er ohne Erlaubnis entfernen. Seine Schwester hatte ihn ständig angerufen: Du musst nach Hause kommen. Er hatte sie weggedrückt. Doch nun ist der Vater verstorben. Zumindest zur Beerdigung muss Juan nach Hause zurückkehren. Es ist schon ein Kreuz mit diesem Dorf namens Cruces. Ein paar Tage ... den Vater unter die Erde bringen und dann zurück nach Schottland. Doch seine Schwester, die mit ihrer Familie in Barcelona wohnt, ihr eigenes Biotec-Unternehmen leitet und sich jahrelang um die Eltern in Zentralspanien gekümmert hat, stellt ihn vor vollendete Tatsachen: Die Mutter leidet an Alzheimer. Juan muss das übernehmen. Doch der fühlt sich nicht zuständig, schließt die Ohren ... so schlimm kann es nicht sein ...  gut, ein paar Tage länger. Erschreckende Geheimnisse tun sich nun auf.


Verpflichtungen?


Juans Vater verließ das Ackerland und sein Dorf, Cruces, für eine Faserzement-Fabrik in Getafe südlich von Madrid. Seine Mutter wiederum tauschte den steingefliesten Boden der Mühle, in der sie zur Welt gekommen war, gegen die lackierten Dielen einer gutbürgerlichen Wohnung im Zentrum der Hauptstadt ein. Hinten im Lichthof führte für sie eine Dienstbotentreppe direkt in die Küche.


Dies ist ein feinsinniger Roman, der sich mit dem Generationenkonflikt befasst, die Spirale des Sorgens um die Elterngeneration. Zu was ist man verpflichtet? Und haben die Eltern die Kinder wirklich nicht geliebt, ihnen nur Vorschriften gemacht? Kann man Familienbanden auflösen? Herrlich beschrieben die Familienverhältnisse im Rückblick, wie der Vater dem katalanischen Schwiegersohn entgegengetreten ist, und der alles sanft geschluckt hat. Erfolgreich, ja, aber eben ein Katalane ... Die Eltern hatten von der Hand in den Mund gelebt, die Firma halb in der Illegalität betrieben. Das alles hat Juan gehasst! Die Schwester, die Juan ständig Vorwürfe machte, weil er sich verpieselt hat; das alles geht ihm auf die Nerven. Doch hat er sein Lebensziel in der Fremde erreicht? Es ist eine realistische Geschichte, voller alltäglicher Details über zwei Generationen, die nicht unterschiedlicher sein können. Eltern, die durch harte Arbeit sich durch das Leben geschlagen haben, um ihren Kindern etwas Besseres zu bieten. Kinder, von denen man erwartet, dass sie den Alten eine Stütze sind, die das wertschätzen, was die Eltern hochgezogen haben. Kinder, die das Leben auf dem Dorf als Gefängnis ihrer selbst empfinden. Jesús Carrasco hat sich für eine distanzierte Schreibweise entschieden, was der Geschichte die Theatralik nimmt, nüchtern die Sache angeht. Eine Geschichte aus dem Leben gegriffen, die sich jeden Tag so oder so ähnlich ereignet. Ein feiner Gesellschaftsroman aus Spanien. 


Jesús Carrasco, geboren 1972 in Badajoz, hat drei Romane veröffentlicht. Sein Debüt Die Flucht wurde auf Anhieb in zahlreiche Sprachen übersetzt und in Spanien als «Buch des Jahres 2013» ausgezeichnet. Jesús Carrasco arbeitet als Werbetexter in Sevilla.



Jesús Carrasco 
Bring mich nach Hause
Originaltitel: Llévame a casa, 2021
Übersetzt aus dem Spanischen von Silke Kleemann
Gesellschaftsroman, Zeitgenössische Literatur, Spanische Literatur
Hardcover, 288 Seiten
Eichborn, 2022





Spanische Literatur

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Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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