Rezension
von Sabine Ibing
Zwei Sekunden brennende Luft
von Diaty Diallo
‹Das sind tägliche Demütigungen, dieses Überprüfen von Identität›, sagt Diaty Diallo. ‹Die Jugendlichen merken ja selbst, dass sie bisweilen mehrmals am Tag von denselben Beamten kontrolliert werden. Man kennt sich. Es ist super demütigend, überprüft zu werden. Allein die Idee, Identitäten zu überprüfen, ist ein hyperschräges Konzept.›
Jugendliche in den Banlieues von Paris sind selten weiß. Und wer dunkelhäutig ist, der ist am Arsch – besonders wenn die Polizei vorbeischaut. Da wird bereits eine Ausweiskontrolle zum Martyrium, als hätte man eine kriminelle Vereinigung mit hochexplosiven Gangstern hochgenommen. Hast du keinen Ausweis dabei, sperren sie dich erstmal ein, auch wenn sie dich kennen, du vor deinem Haus stehst, sie schnell mit dir hochgehen könnten. Ein falsches Wort, ein Witz und du wirst von den Bullen durchgewalkt, so dass du hinterher einen Arzt brauchst. Kein Zuckerschlecken, die falsche Hautfarbe zu haben, gewiss auch keins, in den Banlieues zu wohnen. Und trotzdem, oder vielleicht deswegen, halten sie hier zusammen.
Eine Party mit verhängnisvollem Ende
Die Luft ist voller Rauch. Erstickt die Stimmen, erstickt die Hilferufe. Ich drück mir meine zusammengeknäulte Jacke aufs Gesicht. … Das Tränengas überflutet den Raum und löst eine Massenpanik aus. Eng aneinandergepresste Körperteile geraten auf der Flucht durcheinander. Mein ganzer Körper bäumt sich auf, meine Lunge sucht nach Sauerstoff. Ich kann nicht mehr atmen.
Sie grillen, feiern Partys – in einem Parkhaus, das sie auf den Namen «Pyramide» getauft haben. Was ist schon dabei? Musik hören, tanzen, grillen, trinken, chillen. Die Party läuft, der Erzähler wartet auf seinen Freund Samy, verliebt sich gerade in ein Mädchen, als die Sirenen heulen. Und schon spürt es das Tränengas – das sie ständig benutzen. Das treibt alle raus aus dem Haus, man ist fast blind und schon klicken vor der Tür die Handschellen. Das Ereignis um diesen Abend wird vorwärts und rückwärts erzählt. Mal mal schnell auf den Punkt gebracht, dann wieder langgezogen, in die Emotion getaucht. Weitwinkel und Zoom sind erzählerisch auf der Kamerafahrt. Samy war auf dem Weg zu dieser Party und er wird verfolgt, hinterrücks von der Polizei erschossen …
Ein ergreifender Roman, der gesellschaftliche Fragen aufdeckt
… den Namen seiner Mutter gefunden und angefangen, sie zu beleidigen. Die werden wir hart drannehmen, da steht sie doch sicher drauf, Schwarze wollen doch alle nur das eine, so was. Bei den ganzen Beleidigungen ist Issa völlig ausgetickt und die Beamten konnten mit ihrer inoffiziellen Mission beginnen. Entmenschlichen, verprügeln mit weniger Respekt als man einen Boxsack prügeln würde.
Die Geschichte dreht sich um die Zeit vor und nach Samys Tod. Eine Geschichte aus der Realität gegriffen, völlig ohne Klischees. Jugendliche, die einfach nur jung sein wollen, sich treffen möchten, die ständig aus ihrem Rhythmus gebracht werden, da alle paar Stunden die Polizei einfährt. Die Gesellschaft ist buntgemischt, vom Schüler über Arbeitende bis zu Studenten. Und hier leben auch keine von Grund auf gewalttätigen jungen Menschen. Diaty Diallo thematisiert in ihrem Roman den allgegenwärtigen Rassismus, Polizeigewalt und Ausgrenzung in den französischen Metropolen, deren öffentlicher Raum von Überwachungsvorrichtungen und Polizeistreifen geprägt wird. Diaty Diallo findet ihren eigenen Sprachsound – und der ist klasse! Zwischen Jugendsprache und literarisch-poetischen Abschnitten, mit bravourösen Satzkonstruktionen und Metaphern, musikalischen Einlagen, klingt dieses Buch authentisch auf besondere Weise, und sie gibt den Jugendlichen in den verwaisten Vorstädten eine Stimme. Der Schlusssatz ist ein emotionales Feuerwerk über vier Seiten, ein explodierter Schmerz aus dem Inneren, eine Befreiung. Ein ergreifender Roman, der gesellschaftliche Fragen aufdeckt. Ein Gesellschaftsroman, ein Coming-of-Age, auch als Jugendbuch ab 14 Jahren geeignet.
Diaty Diallo wurde 1989 in Versailles geboren und wuchs in den Pariser Banlieues auf, wo sie heute noch lebt. Seit ihrer Jugend widmet sie sich verschiedenen Formen des Schreibens: vom täglichen Führen eines Blogs mit 15 Jahren, über die Erstellung von Fanzines und der Komposition Dutzender Lieder bis hin zum Schreiben dieses Buches. »Zwei Sekunden brennende Luft« ist ihr Debütroman.

Zwei Sekunden brennende Luft
Originaltitel : Deux secondes d’air qui brûle
Aus dem Französischen übersetzt von Nouria Behloul und Lena Müller
Zeitgenössische Literatur, Gesellschaftsroman, Paris, Banlieues, Rassismus, Polizeigewalt, Coming-of-Age-Romane, Französische Literatur
Klappenbroschur, 192 Seiten
Assoziation Verlag, 2023
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