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Wo drei Flüsse sich kreuzen von Hannah Kent - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Wo drei Flüsse sich kreuzen 


von Hannah Kent

Gesprochen von: Vera Teltz
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 25 Min.


Der Anfang:  Als sie ihr die Leiche brachten, war Nóras erster Gedanke, dass dies unmöglich ihr Mann sein konnte. Sie starrte die Männer ungläubig an, die Martins Last in der beißenden Kälte auf ihren schwitzenden Arbeiterschultern trugen, und dachte, dass diese Leiche eine grausame Unterschiebung sein  musste: eine Missgeburt, ein Wechselbalg, dessen Ähnlichkeit mit Martin etwas Brutales an sich hatte.  Martins Mund und Augen standen offen, sein Kopf war auf die Brust gesunken, aber da war kein Funken in ihm. Der Schmied und der Knecht hatten ihr lebloses Gut gebracht. Das konnte nicht ihr Mann sein. Das war er nicht.


Die australische Autorin Hannah Kent hat sich wieder einen europäischen, historischen Kriminalfall vorgenommen. In ihren Dramen ist der Mittelpunkt eine Frau, die am Ende vor Gericht steht, ein Drama, denn diese Frauen sind nicht wirklich schuldig an den Tötungsdelikten, sie sind ein Opfer der Umstände. In diesem Fall geht es um Aberglaube und die Macht zwischen Kirche und dem alten irischen Glauben. Diese Geschichte basiert auf einen Gerichtsprozess aus Irland im Jahr 1825, bei dem eine Kindstötung verhandelt wird. Zu dieser Zeit gab es viele Heilerinnen, denn die armen Menschen konnten sich einen Arzt nicht leisten. Letztendlich war man oft bei einer Heilerin mit ihren Kräutern und Salben auch besser aufgehoben, als beim Mediziner, der damals Patienten generell zur Ader gelassen hat.


Alte Mythen gegen die Moderne

Die Totenklägerin. Die Frau mit den weisen Händen. Wenn Nance ihren Mund öffnete, dachten die Leute an all die Dinge, die schieflaufen konnten, an die Art und Weise, wie sich das eine in das andere verwandelte. Sie sahen ihr weißes Haar und dachten an Morgen- und Abenddämmerung. Sie  war  sowohl  die Frau, die Babys in den sicheren Hafen dieser Welt brachte, als auch die Sirene, die die Verankerung der Boote löste und sie in die Dunkelheit schickte.


Die Geschichte wird wieder mit dem Anfang aufgerollt: Die alte Nance ist eine Heilerin, steht dem alten Glauben nah, wie auch gleichzeitig dem christlichen. In ihrem Glauben (und auch dem der meisten Menschen aus dem ländlichen Raum) gibt es das Feenvolk. Die «Síóga» oder «na daoine maithe» können Gutes tun, aber auch hinterhältig sein. Der irischen Mythologie folgend, leben nach wie vor Feen in den irischen Feenhügeln, die bis heute kein Farmer und kein Bauherr abzutragen wagt, selbst wenn sie einem geplanten Bauvorhaben im Wege stehen. Hannah Kent verortet ihre Geschichte in die Zeit des Aberglaubens, in der christliche Messen und heidnische Riten parallel liefen. Sie zieht uns in alte Mythen und Rituale, die fast nach Fantasy anmuten, zeigt alte Heilverfahren aus Weidenrinde usw.. Nance kennt sich mit Kräutern aus, versorgt Wunden, stellt Aufgüsse für Erkältungen und Monatsschmerzen zusammen, agiert als Geburtshelferin und Totenklägerin. Viele dieser Heilungen werden mit Feenritualen unterstützt. Sie kennt sich auch mit Tollkirsche und Stechapfel aus und sagt, dass es keine giftigen Pflanzen gäbe, wenn man sie richtig anwende: Erst die Menge macht das Gift. Sie veranstaltet Trauerrituale als Totenklägerin – das und ihre Hinwendung zu den alten Riten bringt den neuen Pfarrer in Rage. Da wird Asche auf die Türschwelle geschmissen, damit die Seele eines Toten das Haus zu verlassen mag, das kann er nicht dulden. 


Ein Wechselbalg 

Nóra Roche hat zuerst ihre Tochter verloren, die bei der Geburt ihres Kindes starb und nun verstirbt plötzlich ihr Mann. Jetzt muss sie ihrem Enkelsohn Micheál allein großziehen. Das Kind, ist schwer behindert, Nora lässt es nicht aus dem Haus, und trotzdem kommt im Dorf das Gerüchte auf, das Kind sei ein von den Feen vertauschter Wechselbalg. Alles Unheil wird nun dem Jungen angehängt: die Kuh, die zu wenig Milch gibt, das Kind, das tot geboren wird und einiges mehr. Selbst Nóra kommt zu der Einsicht, dass dieses Kind ein Wechselbalg ist, die Feen ihren Enkel entführt haben. So wendet sie sich an Nance, die sie bestärkt. Die alte Nance will ihr den Enkel zurückholen, indem die das behinderte Kind Riten unterzieht, die die Feen zwingen sollen, das Wechselbalg zurückzunehmen und das echte Kind freizulassen. Das Drama nimmt seinen Lauf.


Ein guter Mix aus verschiedenen Genren

Hannah Kent schafft es, den Leser in die ärmliche Landbevölkerung ins Neunzehnte Jahrhundert zu ziehen. Wunderschöne Landschaftsbeschreibungen, Dorfzwist, die Wandlung von den alten Riten in die Moderne. Die Charaktere der Hauptpersonen sind komplex und fein gezeichnet. Heilkünste gut eingesetzt oder mit verheerenden Auswirkungen im Aberglauben, irische Bräuche und Mythen eingeflochten, so dass man sich manchmal in ein Fantasybuch geworfen fühlt – was aber beinharte Realität zu diesen Zeiten war. Ein Pfarrer, der über diesen Blödsinn wettert und droht, das halbe Dorf gegen die Heilerin aufhetzt. Und als es am Ende zum Prozess kommt, staunen die Städter ungläubig, welchem Glauben ihre Landsleute auf dem Dorf nachgehen. Die Autorin beschreibt die Geschichte auf allen Ebenen, im Naturwriting, im Mystischen und auf der neutralen Erzählebene, da sie auf verschiedenen Perspektiven agiert. Die Magd von Nóra ist der neutrale Mittler, denn sie glaubt auf der einen Seite an die Feen, doch sie zweifelt an der Geschichte vom Wechselbalg, hält den Jungen für ein normales Kind, das eben behindert ist. Ihr gehen die Rituale zu Herzen, weil sie den Jungen liebt. Weil sie nicht aus dem Dorf stammt, betrachtet sie die Dinge distanziert, stellt vieles in Frage, aber gleichzeitig nimmt sie Position für die Heilerin auf, weil sie sieht, wie sehr sie Menschen helfen kann. Nance wird von der einen Seite des Dorfs als Hexe beschimpft, sie wird vom Pfarrer bedroht, doch eine Menge Dörfler suchen sie auf, um sich Hilfe zu holen, in der Regel heimlich. Ein Muss für Irlandfans, und für alle, die tolkinsche Mythen lieben, ein historischer Roman mit Tiefe. Wieder ein gelungener Gesellschaftsroman, Kriminaliteratur, ein guter Mix von allem.


Hannah Kent, geboren 1985 in Adelaide, Australien, ist die Mitbegründerin der australischen Literaturzeitschrift «Kill Your Darlings». 2011 gewann sie den Writing Australia Unpublished Manuscript Award für ihr Debüt «Das Seelenhaus». Seit seiner Publikation 2013 ist der Roman in fast dreißig Sprachen übersetzt worden, stürmte die Bestsellerlisten und gewann weitere zahlreiche Preise.


Weitere Romane von Hannah Kent

Rezension zu «Das Seelenhaus» von  Hannah Kent: Das Seelenhaus von Hannah Kent


Hannah Kent
Wo drei Flüsse sich kreuzen
Gesprochen von: Vera Teltz
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 25 Min.
Übersetzt aus dem Englischen von Leonie Reppert-Bismarck
Roman, Kriminalliteratur, historischer Roman, Gesellschaftsroman
Audible 2017, HörbucHHamburg HHV, 2021
Gebunden, Seitenzahl: 432
Droemer Verlag, 2017



Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
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