Direkt zum Hauptbereich

Wir sehen uns dort oben von Pierre Lemaitre - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Wir sehen uns dort oben 

von Pierre Lemaitre

Sprecher: Markus Hoffmann

Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 17 Std. und 9 Min.


Ich lese Pierre Lemaitre sehr gern und hatte vergessen, mir dieses Buch zu holen und so aus Versehen zuerst den 2. Teil gelesen: »Die Farben des Feuers«. Macht aber nichts, denn es sind in sich abgeschlossene Geschichten. Natürlich bedient sich Teil zwei eines Teils der Figuren von Teil eins. Der Goncourt-Preis 2013 machte den französischen Roman »Wir sehen uns dort oben« zum Bestseller, eine Mischung aus Literatur, Kriminellem und Historischem, versetzt mit Humor, die Handschrift von Pierre Lemaitre. Die Geschichte beginnt 1918 auf dem Schlachtfeld. Die letzten Kriegstage des Ersten Weltkriegs sind für die Soldaten eingeläutet und wer es bisher im Kampf gegen die Deutschen überlebte, der sollte nun auf der Hut sein, auch vor den eignen Leuten. Offizier d'Aulnay-Pradelle erschießt zwei Kameraden hinterrücks, er hat seine hinterhältigen Gründe. Dummerweise beobachtet ihn dabei Albert Maillard der in einem Granattrichter liegt, nicht allein herauskommt. Pradelle schmeißt eine Handgranate nach ihm und Albert wird verschüttet. Doch bewahrt Kamerad Édouard Péricourt ihn vor dem Tod, der wiederum letztes beobachtet hatte. Beim Ausgraben von Albert erwischt der nächste Granatenangriff Édouard, und sein halbes Gesicht wird zerfetzt. Albert fühlt sich ihm gegenüber verpflichtet, kümmert sich um ihn, und erfüllt ihm seinen größten Wunsch: eine falsche Identität. Der junge Mann, Sohn eines Bankiers ist homosexuell und studiert Freie Kunst, mag mit seinem zerstörten Gesicht nicht zu seiner Familie zurückkehren, die ihn sowieso nicht versteht. Der halbseidene Pradelle wiederum lernt Édouard Schwester kennen, heiratet die Bankierstochter Péricourt und scheffelt in den Nachkriegsjahren das große Geld mit der Umbettung von toten Soldaten auf Sodatenfriedhöfe. Der arg ledierte Édouard wird weiterhin von Albert gepflegt und zusammen entwickeln sie pfiffiges Geschäftsmodell: Die verkaufen Kriegsdenkmäler, die niemals gebaut werden sollen, hofffen ein Vermögen zu scheffeln und abzuhauen.

Gesellschaftsroman, Antikriegsroman, Geschichte, Krimi, Satire

Pierre Lemaitre zeigt wie immer viel Humor, präsentiert eine Nachkriegsgesellschaft aus allen Gesellschaftsschichten. Kriegsveteranen, einfache Menschen und auf der anderen Seite die höhere Gesellschaftsschicht. Krieg ist für die Geschäftswelt Gewinn: Vor dem Krieg, mit dem Krieg und aus dem Krieg Gewinn schöpfen oder Ruhm – am besten beides – krumme Geschäfte mit Moral und Anstand, Trauer – Emotionen funktionieren immer. In plastischer Erzählweise, seinen Protagonisten tief in die Seele schauend, springt der Autor zwischen Clubs mit versnobten, korrupten Typen aus der besseren Gesellschaft, Dienstmädchenszene, Armenviertel und Grandhotel hin und her. Mit den Gefühlen der Menschen spielen, ihnen Geld aus der Tasche ziehen, da ist der Bankier gar nicht so entfernt in der Methode wie der kleine Betrüger. Deftig, sarkastisch, humorvoll, kriminell, mitten in der historischen Szenerie von Paris gelingt Pierre Lemaitre wieder ein großartiger Roman. Gesellschaftsroman, Antikriegsroman, Geschichte, Krimi, Satire – die verschiedenen Stränge laufen parallel und verbinden sich am Ende zum großen Ganzen.

Scharf gezeichnete Figuren: Der Antiheld und der fiese Möchtegern

Nein, die Geschichte ist nicht wirklich historisch, diesen künstlerischen Streich um Gefallenendenkmäler hat es nie gegeben – das Gesellschaftsbild der Zeit ist stimmig. Reizvolle Figuren, wie der beiden ehemaligen Soldaten, verbunden in ewiger Freundschaft, die sich in der Not zu liebevollen Spitzbuben entwickeln, der strampelnde Pradell, der über Leichen geht, Aufsteiger in der Noblesse, der unbedingt dazugehören will bei den Großen, aber trotz Erfolg und einflussreicher Heirat nie in der besseren Gesellschaft ankommen wird und viele andere mehr machen den Roman zum Lesespaß.


Und hier geht es weiter zum 2. Teil: 


Die Farben des Feuers von Pierre Lemaitre

Ein grandioser Roman, der Drama, Crime und Historisches vereint. Madeleine Péricourt erbt nach dem Tod ihres Vaters das Familienunternehmen, eine Bank. Ihr Onkel wird lediglich mit einer kleinen Summe abgespeist und der Prokurist, der glaubte, die Erbin würde nun seinen Hochzeitsplänen nachgeben, erhält einen Korb. Gemeinsam ersinnen die Männer einen Plan, sich Bank, Villa und Vermögen unter den Nagel zu reißen. Madeleine, betrogen, nun bankrott, sinnt nach Rache. Die Abrechnung einer Frau kann schrecklich sein … Paris in den dreißiger Jahren, gut recherchiert zeigt sich ein feines Gesellschaftsbild der Zwischenkriegszeit: Wirtschaftskrise, Machtübernahme in Deutschland, der Duce in Italien, die hohen Herrschaften Frankreichs raffen, was das Zeug hält, Steuerbetrug steht an der Tagesordnung, Journalisten lügen für Geld, das Volk rebelliert.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Dino-Alarm von Andreas Völlinger und Pascal Nöldner

  Leo soll in der Schule einen Vortrag über sein Lieblingstier halten – dazu soll man das Tier beobachten. Aber wie kann er einen Apatosaurus betrachten, der längst ausgestorben ist? Vielleicht hilft ihm seine Erfinder-Tante Agnetha weiter, die ziemlich viele coole Dinge konstruiert, wie auch eine Zeitmaschine. So stürzen sich die beiden ins Abenteuer. Dinosauria in echt beobachten! Spannend und lustig, ein Kinderbuch für Leseanfänger ab 6 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Dino-Alarm von Andreas Völlinger und Pascal Nöldner

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa