Rezension
von Sabine Ibing
Wild
von Jamey Bradbury
Die siebzehnjährige Tracy lebt mit Vater und Bruder außerhalb der Stadt in der Wildnis Alaskas – die Mutter ist vor einem Jahr verstorben. Die Familie züchtet und trainiert Schlittenhunde. Tracy ist von der Schule geflogen, weil sie einen Mitschüler verprügelt hat – lernt nun zu Hause. Die Jagd in den Wäldern ist ihre Leidenschaft und täglich ist sie unterwegs, ihre Fallen zu kontrollieren. Eines Tages wird sie auf einem Streifzug von einem Fremden gepackt, zückt reflexartig ihr Messer. Dann wird ihr schwarz vor Augen. Als sie aus ihrer Ohnmacht aufwacht, ist der Mann verschwunden. Am nächsten Morgen taumelt genau dieser Typ blutend auf das Anwesen; er hat Messerverletzungen im Bauch. Der Vater fährt den schwer Verletzten sofort ins Krankenhaus.
Ohne Blutmahl fühlt sie sich schwach
Tracy hat Gewissensbisse. Sie kann sich an nichts erinnern. Hat sie diesen Mann, der nun mit dem Leben ringt, so schwer verletzt? Am besten wäre es, wenn er stürbe. Von hier an geht der Roman weit zurück in die Vergangenheit. Die Mutter hatte Tracy immer gewarnt: sollten ihr im Wald fremde Männer begegnen, solle sie sich davon machen; und sie hatte ihr das Messer gegeben. Bereits mit 10 Jahren ist Tracy allein im Wald herumgestromert, um Wild zu erlegen. Vorher war sie mit der Mutter unterwegs. Jagen kann man das eigentlich nicht nennen, denn Tracy ist eine Fallenstellerin, fängt eher kleinere Tiere. Vor Ort nimmt sie die toten Tiere aus, manchen muss sie den Gnadenstoß geben. Ist ein Lebewesen noch warm, blutet sie es aus, trinkt vom Blut. Ohne Blutmahl fühlt sie sich schwach, Blut ist ihre Nahrung. Die Mutter hatte sie immer gewarnt: Das Blut ist gut – trinke aber niemals das Blut eines Menschen!
Hundeschlittenrennen liegt der Familie im Blut
So langsam begreift der Leser: Tracy ist anders. Das Wort Vampir wird nie erwähnt und ansonsten ist Tracy auch ein ganz normaler Mensch, vielleicht ein bisschen wilder als andere Kinder. Nun taucht ein jugendlicher Ausreißer bei der Familie auf und behauptet, von einem Mann verfolgt zu werden. Das muss der Mann aus dem Wald sein, überlegt Tracy. Der Vater nimmt Jesse auf, gegen Arbeitsleistung kann er bei ihnen wohnen und essen. Der Vater war früher ein legendärer Pecker, hat die großen Hundeschlittenrennen gewonnen. Die Tochter will in seine Fußstapfen treten, ist nun alt genug, um am ersten großen Rennen teilzunehmen. Der verletzte Mann geht Tracy ständig durch den Kopf: Wenn er gesund wird, wird er zurückkommen, nach ihr und Jesse suchen, sich rächen wollen. Oder er geht zur Polizei und zeigt sie wegen Körperverletzung an. Horrorszenarien laufen in ihrem Kopf ab.
Die Spannung plätschert dahin
Tracy ist wild. Schule ist für sie lästig – der Wald ist ihr Leben und sie hat eine besonders gute Beobachtungsgabe für die Natur entwickelt. Spurenlesen, die Wahrnehmung für Geräusche – sie ist gepolt auf das Leben im Wald und liest jede Menge Literatur zum Überlebenstraining. Das Fallenstellen ist lebenswichtig für sie, da sie das frische Blut benötigt. Doch plötzlich ist da Jesse, den sie anziehend findet, ihr Geheimnis mit ihm teilt. Er ist Tracy gegenüber relativ abweisend – zumindest körperlich. In diesem Roman geht es um die Beziehung Mensch und Natur, Instinkte in der Natur. Aber letztendlich habe ich mich am Ende gefragt, was mir der Autor sagen wollte. Der Genremix mit Alaskafeeling ist in unangestrengter Sprache gefasst, besticht nicht mit Nature Writing, denn dem Sound fehlt die Sprachgewalt. Schnell durchgelesen wartet man stets auf das Aha. Am Ende gibt es eine unerwartete Wendung. Man fragt sich, weshalb der Vater so gar nichts vom mystischen Hauch von Frau und Tochter mitbekommt. Horror im Unterton, ein Coming-of-Age, Geschlechteridentitäten, Country Noir, Thriller und Phantastik. Spannung ein wenig, aber eher plätschert die Geschichte dahin. Literarisch konnte der Roman mich nicht überzeugen. Kann man lesen, aber man verpasst nichts, wenn das Buch an einem vorüberzieht. Immerhin, Stephen King hat die Geschichten gut gefallen.
Jamey Bradbury, geboren 1979 in Ohio und aufgewachsen in Illinois, studierte Creative Writing an der Universität von North Carolina in Greensboro. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten in verschiedenen Literaturzeitschriften. The Wild Inside ist ihr erster Roman, er wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Bradbury lebt in Anchorage, Alaska, wo sie für lokale Medien und bei einer Sozialeinrichtung für Indigene arbeitet.
Jamey Bradbury
Wild
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Lydia Dimitrow
Genremix: Country Noir, Thriller, Myst, Phantastik, Coming-of-Age, Geschlechteridentitäten, amerikanische Literatur
Softcover, 390 Seiten
Lenos Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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