Direkt zum Hauptbereich

Von Frauen und Salz von Gabriela Garcia - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Von Frauen und Salz 


von Gabriela Garcia


Der Anfang: 

Jeanette, sag mir, dass du leben willst.

Gestern habe ich Fotos von dir als Kind angeschaut. Voll Salz und Sand, zahnlückig und lächelnd am Strand des Ozeans, meine einzige Tochter. Ein Buch in der Hand, weil es das war, was du wolltest. Nicht spielen, nicht schwimmen, nicht in die Wellen rennen. Du wolltest im Schatten sitzen und lesen.


Kurzgeschichten um fünf Frauen in verschiedenen Generationen, die miteinander verwandt oder auf andere Weise verbunden sind. Miami, Camagüey, Havanna und Zentralmexiko; Flucht und Migration spielen eine Rolle – legal oder illegal, Frauen in ihren Stärken und Schwächen. Victor Hugos Roman «Les Misérables» spielt eine Rolle mit seinem Satz «Wir sind stark». Der Roman beginnt in Miami, 2018: Carmen, eine kubanische Migrantin, ist verzweifelt, weil ihre Tochter drogenabhängig ist und sie sich selbst die Schuld gibt. Sie war zu hart und sie hätte mehr mit ihrer Tochter reden müssen, irgendwann zwischen Shopping und Schönheitsoperationen. Doch es ist nie zu spät.


Ich gebe mir die Schuld, weil ich weiß, dass du dein ganzes Leben lang mehr von mir wolltest. Ich habe dir so vieles nicht gesagt und bin so oft hart gewesen. Ich dachte, ich muss hart genug für uns beide sein. Du schienst dich immer aufzulösen. Der Boden unter deinen Füßen ist schon immer erodiert. Ich dachte, ich muss stark sein.

Ich habe nie gesagt: Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst. Ich habe aufgehört, mit meiner eigenen Mutter zu reden. Ich habe dir nie den Grund genannt, warum ich in dieses Land gekommen bin.


Literatur beim Zigarrendrehen

Es geht zurück in eine kubanische Tabakfabrik, Kuba, Camagüey, 1866, María Isabel arbeitet als einzige Frau in der Herstellung von Zigarren. Der Vorleser tritt auf seine Plattform vor den Arbeitern, beginnt zu lesen und die Arbeiter rollen hauchdünne Blätter zu feinsten Zigarren. Der Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit hängt in der Luft; Rebellenkämpfe gegen die spanische Krone, Generäle der Milizen kommen und gehen. María Isabel liebt die Bücher, die beim Rollen der Tabakblätter vorgelesen werden, denn sie kann selbst nicht lesen: Victor Hugo, Alexandre Dumas, William Shakespeare; Der Graf von Monte Christo, Les Misérables, König Lear, Romeo y Julieta, Der Glöckner von Notre-Dame … Antonio, der Vorleser ist verliebt in María, aber die Zeiten sind hart. 


El Salvador ist keine Option

Jeanette, die Tochter von Carmen, kämpft jeden Tag gegen ihre Drogenabhängigkeit und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als ihre Nachbarin Gloria von der Einwanderungspolizei abgeführt wird und kurz darauf deren kleine Tochter Ana allein vor verschlossener Tür steht, nimmt Jeanette das Kind zu sich – für den Moment, denn was soll sie mit ihr anfangen? Tief beschämt ruft sie die Polizei und versteckt sich im Schlafzimmer als Ana abgeholt wird. Gloria hat es nicht geschafft, ein paar Jahre hatte sie unentdeckt in den USA illegal arbeiten können, ihre Tochter war hier zur Schule gegangen. Nun Abschiebehaft, später abgeschoben nach Mexiko – aber nach El Salvador zurückzugehen ist keine Option, denn das Kartell wird sie und Ana umbringen, wie den Rest ihrer Familie. Dann eben Mexiko und der Traum, ein drittes Mal in die USA entkommen zu können … 


Die Wurzeln begreifen

Später will Jeanette verstehen, warum ihr die Kraft fehlte, für Ana zu kämpfen. Sie reist nach Kuba, besucht ihre Cousine und es folgt ein Roadtrip durch die kubanische Landschaft. Bei ihrer Großmutter Dolores (die Enkelin von María Isabel) stößt sie auf ein Buch, Les Misérables, und zwei Sätze darin, die sie für immer mit den furchtlosen Frauen ihrer Familie verbinden werden: «Wir sind stark. Wir sind mehr, als wir glauben». «Von Frauen und Salz», das Salz von Schweiß und Tränen. 


Legal oder illegal?

«Wir sind nicht wie sie, wir sind politische Flüchtlinge», sagen die Kubaner. Exil-Kubaner:innen, die sich als zugehörig fühlen, fast so etwas wie Amerikaner. Kubaner haben den Status, sowie sie die USA betreten, dürfen sie bleiben. Darum versucht die Grenzpolizei auf Wasser die Flüchtlinge abzufangen, um sie sofort zurückzutransportieren. Anders als die Migrant:innen aus Mexiko und Mittelamerika – sie sind Flüchtlinge, Illegale. Gabriela Garcia kennt den Unterschied genau, denn ihr mexikanischer Vater hatte es nicht leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, kein Thema für ihre kubanische Mutter. Auch wenn am Ende alles zusammenhängt, es sind zwölf vielschichtige Kurzgeschichten mit eigener Tonalität, fünf starke Lebensläufe, die von kolonialistischer und kapitalistischer Ausbeutung zeugen und getragen sind von Traumata durch patriarchale Gewalt. Ein feministischer Generationenroman, der beeindruckend verdichtend und gut beobachtet 150 Jahre zusammenfasst. Empfehlung!


Gabriela Garcia, geboren 1984, ist Schriftstellerin, Lyrikerin und Journalistin. Sie wuchs in Miami auf. Sie zählt sich, wie sie in einem Interview mit der Vogue verriet, zur «Latinx community» beziehungsweise Abweiseheit einer Community, da Zugehörigkeit zur Latin-Community den Individuen oft auferlegt werde. Mütterlicherseits ist sie kubanischen, väterlicherseits mexikanischen Ursprungs, wobei in Amerika viel gestritten werde, ob Kubaner überhaupt zur Latin Community zu zählen seien. Das Buch war nominiert für Best Historical Fiction (2021) und Best Debut Novel (2021)



Gabriela Garcia
Von Frauen und Salz
Originaltitel: Of Women and Salt
Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube
Zeitgenössische Literatur, Kuba, Florida, Mexiko, Latinos, Vertreibung, Exil, Migration, Flüchtlinge, Feministische Literatur
 Literatur
Gebunden, 304 Seiten
Claassen Verlag, Ullstein, 2022





Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension -MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

  Die Entstehungsgeschichte der Menschheit als spannende Comic-Sachgeschichte präsentiert – lehrreich und humorvoll verpackt! Woher kommen wir? Wer waren unsere Vorfahren? Und ab wann lernten sie, mit Werkzeugen umzugehen? Diese Graphic Novel nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch die Evolution der Menschen, indem wir ihnen sozusagen hautnah begegnen. Wissenschaft meets Comic, Historische Fiction – Sachkinderbuch ab 10 Jahren, über die Evolution der Menschen – klasse gemacht! Empfehlung auch als Unterrichtsmaterial! Weiter zur Rezension:    MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

Rezension - Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter

  Eine türkische Familiengeschichte, die mit der Urgroßmutter und der Großmutter einleitend beginnt. Die nächste Generation wandert nach Deutschland aus – das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Der Traum, den viele «Gastarbeiter» träumten: Arbeiten, viel Geld verdienen, nach Hause zurückkehren und ein Haus bauen. Und dann wurden aus den Gästen Einwohner. In Deutschland die Türken – in der Türkei die Deutschen – entwurzelt, nirgendwo wirklich zu Hause. Eine Familie, die sich bemüht hat, sich zu integrieren. Ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter – zwei völlig verschiedene Generationen, aber auch eine Abrechnung mit der deutschen Gesellschaft und eine mit dem Heimatland und dem Machismo, mit der Erniedrigung der Frauen. Ein hervorragender Gesellschaftsroman, ein Bildungsroman über Migration, Rassismus und Misogynie – meine Empfehlung! Weiter zur Rezension:     Unser Deutschlandmärchen von Dincer Gücyeter