Rezension
von Sabine Ibing
Tiohtiá:ke
von Michel Jean
Für die Mitglieder der Premières Nations ist das eine eher müßige Frage. Sie haben immer die Insel besucht oder auf ihr gelebt, die für sie Tiohtiá:ke heißt, wie die Mohawk, die am südlichen Ufer des Stroms leben, sie jetzt in ihrer Sprache nennen.
Der junge Innu Élie Mestenapeo kommt nach einem zehnjährigen Gefängnisaufenthalt nach Montréal – Tiohtiá:ke, wie die Stadt in der Sprache der Mohawk genannt wird – weil seine Gemeinde Nutashkuan an der Côte Nord ihn vebannt hat. Er hatte seinen gewalttätigen und alkoholsüchtigen Vater ermordet, als der mal wieder seine Mutter geschlagen hatte. Obdachlos, völlig auf sich allein gestellt, sucht er nach einem Platz, schläft auf Bänken im Park, streift durch die Straßen und Plätze. So stößt er bei seiner Suche auf eine gemischte Gruppe von Innu, Inuit, Cree, Atikamekw, Nakotas, Mohawks, Anishinabes die am Square Cabot ein Camp aufgeschlagen haben – illegal, aber geduldet. Sie alle sind obdachlos, arbeitslos und viele von ihnen sind Alkoholiker. Der alte Geronimo nimmt sich dem jungen, intelligenten Élie an. Der Nakota Jimmy versorgt die Obdachlosen in seinem Kochmobil mit Essen, bietet Élie einen Minijob an. Mary, die ihre Tochter damals zur Adoption freigegeben hatte, da sie sich nicht im Stande sah sie zu versorgen, ist stolz auf sie. Denn die kleine Lisbeth war in eine gute Familie gekommen, studiert heute Medizin. Élie und Lisbeth freunden sich an und sie überzeugt ihn, den Schulabschluss nachzuholen und vielleicht zu studieren. Eine harte Zeit beginnt und Élie schafft den Abschluss.
Leute kommen, andere gehen. Man stellt keine Fragen. Die einzige Bedingung ist, dass man den Ort sauber hält. Im Prinzip haben wir nicht das Recht, hier zu kampieren. Also sammeln wir die Spritzen, die Kondome, die Bierflaschen und all den shit ein. Denn sonst kommt die Polizei, und wir müssen verschwinden.
Die Premières Nations ins Licht rücken
Jean Michel widmet sich in diesem Roman den Premières Nations, die meist in desolaten Reservaten leben oder obdachlos in Großstädten. Viele von ihnen leben auf der Straße in Montréal. Die Auswirkungen, die die erzwungene Sesshaftigkeit und Verschleppung der Kinder in die kirchlichen Umerziehungsinternate bis in die Generationen der Kinder und Enkelkinder haben, wirken sich bis heute aus. Die vielen Stämme wurden von den Einwanderern und der Politik an den Rand der Gesellschaft geschoben, verachtet, ungesehen, ohne Lobby. Erst in den letzten Jahren konnten sie sich ein wenig Gehör schaffen. Insofern sind solche Romane wichtig, um diese Menschen ins Licht zu setzen.
In den Reservaten verwahrlost
Wegen seiner Töchter hat er das Reservat verlassen, um nach Montreal zu kommen. Um in derselben Stadt zu leben, auch wenn sie von seiner Existenz nichts wissen. Randy spricht nie darüber. Keiner seiner Freunde in Montreal weiß, dass er Vater ist. Wie sollte er es auch den anderen erklären.
Das Buch schildert die Menschlichkeit, Stärke und gegenseitige Hilfe, mit der diese entwurzelten Menschen ihr Leben auf der Straße meistern. Schwere Winter machen das Leben auf der Straße zur Hölle. Die Geschichte zeigt die Schicksale, die hinter den Menschen stehen. Mary und auch Randy sagen, sie haben es damals richtig gemacht, als sie ihre Kinder zur Adoption freigaben. Viel zu jung, mittellos, ohne Bildung, die Zukunft sah nicht besser aus – das wollten sie ihren Kindern nicht zumuten. Liesbeth hat als Erwachsene Mary aufgespürt. Sie hat nun zwei Mütter, die sie achtet. Randy beobachtet seine Zwillinge aus der Ferne. Das reicht ihm. Er sieht, es geht ihnen gut. Élie und Lisbeth werden ein Paar. Er ist sanftmütig, aber in seinem Bauch schläft ein Bär. Und wenn der erwacht, weil er bedroht wird, seine Wut sich ausbreitet, ist er nicht mehr zu halten und er schlägt zu. Er muss diese Wut in den Griff bekommen …
Ein positiver Ton der Gemeinschaft
Überdurchschnittlich viele Menschen der autochthonen Völker leben auf den Straßen. Übermäßiger Alkoholgenuss, Drogen und Gewalt bestimmen ihr Leben, wie oft auch in den Reservaten bedingt durch Zukunftslosigkeit. In Reservate gedrängt, vieler Rechte entzogen, von guter Bildung ausgeschlossen, lebten und leben noch heute viele Autochthone als Menschen zweiter Klasse. Mehr als mehr als tausend indigene Frauen wurden damals ermordet oder sie sind verschwunden. Die Polizei ermittelte nur oberflächlich. Seit 2010 wird der «Red Dress Day» gefeiert, der an diese Schicksale erinnern soll. Kinder wurden den Ureinwohnern weggenommen, um sie in kirchlichen Einrichtungen zu Christen umzuerziehen. Hunderte von Kinderleichen wurden in den letzten Jahren in Massengräbern auf den Geländen ehemaliger christlicher Klosterinternate entdeckt. Eine abgeschobene, traumatisierte Bevölkerungsgruppe – den Blick auf die Autochthonen setzen! Das ist in diesem Roman gut gelungen. Denn trotz aller Widrigkeiten schwingt in diesem Buch ein positiver Ton der Gemeinschaft, ein Vorwärtskommen, auch wenn es nicht alle schaffen. Das Ende ist unerwartet – ein positiver Sound zeigt nach vorn. Gut geschrieben, beeindruckend, Empfehlung!
Michel Jean, geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec). Nach einem Studium der Geschichte und Soziologie arbeitet er seit 1988 als Journalist und Moderator für die französischkanadischen Fernsehsender Radio Canada Info und, seit 2005, TVA Nouvelles. Er ist mit acht Romanen und zwei Anthologien mit Erzählungen indigener Autorinnen und Autoren aus Québec einer der wichtigsten indigenen Autoren Québecs. Im Oktober 2021 erschien sein Roman Tiohtiá:ke (Montréal in der Sprache der Mohawk). Sein Roman Kukum verkaufte sich weit über 150.000 Mal in Québec und wurde im Herbst 2020 mit dem renommierten Prix littéraire France-Québec und im Herbst 2021 mit dem erstmals verliehenen Prix littéraire Nature Nomade ausgezeichnet.
Tiohtiá:ke
Aus dem Französischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Zeitgenössische Literatur, Kanada, Montreal, Autochthone, Innu, Inuit, Cree, Atikamekw, Nakotas, Mohawks, Anishinabes, kanadische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 200 Seiten, Lesebändchen
Wieser Verlag, 2023
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane
Zeitgenössische Romane
Kommentare
Kommentar veröffentlichen