Rezension
von Sabine Ibing
Tiefer Fjord
von Ruth Lillegravens
Der Anfang:
Was auch passiert, lass dich nicht scheiden.
Diesen Rat hatte mir ein geschiedener Freund am Abend davor gegeben, beim Bier, im Hintergrund lief die Premier League. Eine Scheidung ist so scheißteuer, sagte er. Du wirst ausgeplündert. Mal dir ein finanzielles Worst-Case-Szenario aus und multipliziere es mit zwei. Nein, mit drei! So teuer ist eine Scheidung.
Okay, ich halte aus, ich stehe es durch.
Die Terrassentür fällt laut zu, das ist Claras passiv-aggressive Art, mich zu wecken.
Die Ärzte Haavard und Sabiya müssen einen kleinen Jungen behandeln, der bewusstlos in eine Klinik in Oslo eingeliefert wird. Aber er stirbt am gleichen Abend an den Folgen seiner Verletzungen. Sabiya, pakistanischer Abstammung, kennt die Familie des Jungen aus ihrer Kindheit. Dieses Kind war nicht einfach gefallen; diverse Verletzungen an seinem Körper zeigen, dass es misshandelt wurde. Und der Junge wurde nicht das erste Mal eingeliefert. Die beiden befreundeten Ärzte kämpfen gegen Mühlen, sind verzweifelt über das, was sie täglich zu sehen bekommen. Als die Polizei im Krankenhaus auftaucht, glauben sie, es ginge um den Jungen, denn sie hatte sie informiert. In der Zwischenzeit wurde aber der Vater des Jungen im Gebetsraum des Krankenhauses erschossen. Die engagierten Ärzte geraten unter Verdacht. Noch mehr, als kurz darauf in einem Seminarhotel eine iranischstämmige Frau erschossen wird, die ebenfalls ihre Kinder misshandelte, den Krankenhausärzten bekannt ist. Denn eben in diesem Hotel nehmen Haavard und Sabiya an einem Seminar teil.
Interessant ist die Konstruktion dieser Geschichte
Wer ein richtiger Minister sein will, greift kaum jemals selbst zum Telefon. Für gewöhnlich ruft die Sekretärin von Justizminister Anton Munch an und fragt, ob ich rüberkommen kann.
Im Ton höflich, aber die Frage ist rein rhetorisch.
Her mit dir. Pronto.
»Ich komme.« Ich stehe auf, streiche mein Kostüm glatt, speichere das Dokument, an dem ich arbeite. Mein drittes Kind. Ein Vorschlag zur Gesetzesänderung.
Haavards Frau Clara kämpft als Politikerin für ein neues Gesetz, das misshandelte Kindern früh erfassen und den Behörden erlauben soll, die Schweigepflicht zum Kindeswohl zu brechen, den Familien Hilfestellung gewährleistet werden soll. Ihr Gesetzesvorschlag wird im Vorfeld abgeschmettert. Diese drei Personen sind die Hauptfiguren in dem Thriller. Nebenfiguren sind Claras Eltern und ein Arztkollege. Die Ermittler der Polizei tauchen nur am Rande auf, sie sind unwichtig für diesen Plot. Interessant ist die Konstruktion dieser Geschichte. Ruth Lillegraven arbeitet mit mehreren Ichs. Jedes der in 75 Kapitel ist eine Figur zugeschrieben, die sozusagen mit dem Leser in Kontakt tritt. Der jeweilige Protagonist ist nicht agierend, sondern erzählend aufgebaut – er klärt uns auf, erzählt uns seine Geschichte, von der Kindheit bis heute, erklärt uns Sachverhalte und Nebengeschichten. Natürlich handeln die Protagonisten auch. Aber sie erstatten uns Bericht, über das, was sie tun, oder geraden gemacht haben, legen ihre Gedanken offen. Ein Roman, der sich an den Charakteren abarbeitet – eine Menge Ichs. Das Ich ist die emotionalste Form des Schreibens, hier kommt man den Figuren am nahesten. Und genau das gelingt hier für mich nicht. Die Protagonisten sind ziemlich starr und schablonenhaft, erzählen ihre Geschichte rapportartig. Deshalb würde ich den Roman nicht als Psychothriller bezeichnen.
Nette Unterhaltung
Gesellschaftskritik, Rassismus, und häusliche Gewalt sind die Themen. Leider weiß der Leser ab der Mitte, wer der Täter ist – wir verstehen auch die Gründe. Täterwissen zu haben, kann für den Leser spannend sein, auch den Täter zu kennen. Aber in diesem Fall zieht für mich an genau der Stelle der Plot eine Vollbremsung. Es ist nun langweilig, zu wissen, ob der Täter auffliegt oder nicht. Zum Ende gibt es zwei Wendungen, die endlich mal ein wenig Spannung in den Roman bringen. Die eine war abzusehen – leider, denn auch die der Vorgang, um die Wendung ausführen zu können, lag in der Mitte vom Buch bereits offen – sonnenklar, was passieren wird. Die andere Wendung war passend und gut. Vom Spannungsbogen gesehen plätscherte der Kriminalroman wie ein Bächlein dahin, kein kleiner Wasserfall oder Strudel eingebaut – das hat sich wortwörtlich die Autorin für den Schluss aufgehoben. Und wie gesagt, die Auflösung in der Mitte bremst die Spannung um ein Vielfaches. Die Erzählstruktur der Ichs lassen keine Tiefe zu, keine Emotionen frei, was für mich als Gesamtpaket den Roman (der Verlag ordnet das Buch ja auch als Roman, nicht als Thriller ein) eher langweilig gestaltet. Literarisch betrachtet ist dies Buch als typischer Thriller einzuordnen. Nette Unterhaltung, mehr nicht.
Ruth Lillegraven wurde 1978 in Hardanger geboren und lebt heute in Bærum. 2005 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung. Seitdem veröffentlichte sie Lyrik, Kinderbücher, ein Theaterstück und einen Roman. Tiefer Fjord ist ihr erster Psychothriller. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Brage-Preis und den Nynorsk Literaturpreis.
Tiefer Fjord
Originaltitel: Alt er mitt
Übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Thriller Kriminalroman, Kriminalliteratur, Norwegische Literatur, Oslo, Norwegen
Broschiert, 400 Seiten
List Verlag, 2021
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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