Direkt zum Hauptbereich

Sturmvögel von Einar Kárason - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Sturmvögel 


von Einar Kárason


Der Anfang: 

Auf den ersten Blick wirkt es wie ein aussichtsloses Unterfangen, ein Schiff in einem Wintersturm von Eis zu befreien. Das Eis sieht nicht nur aus wie Glas, es ist auch ebenso hart wie Glas, und wenn das Ganze erst mal so weit fortgeschritten ist wie auf unserem Schiff, dann reden wir nicht mehr über einen dünnen Eisüberzug, ... sondern über eine massive, bizarr geformte Skulptur aus Kristallglas, als hätte ein kunstsinniger Handwerker seiner Fantasie freien Lauf gelassen und sich nur noch lose an den wirklichen Umrissen eines Schiffes orientiert. 


Im Februar 1959 kreuzt der isländische Trawler Mávur vor Neufundland auf Rotbarbenfang. Zweiunddreißig Männer holen den letzten Fang ein, der Schiffsbauch ist gefüllt mit 400 Tonnen Fisch und es herrscht gute Stimmung. Sie haben hart gearbeitet, sind erschöpft, müssen nur noch die letzten Fische vorbereiten und die Netze ordentlich zusammenfalten und vertauen, bevor es zurück nach Reykjavik geht. Doch der Kapitän gibt den Befehl, alles hastig festzuzurren, weil ein gewaltiger Sturm aufzieht. Das schwere Schiff ist innerhalb von Stunden mit einer dicken Eisschicht überzogen, daumendicke Seile haben nun die Größe von Abflussrohren. Haushohe Wellen krachen gegen den Bug, das Schiff droht zu versinken. Notrufe anderer Schiffe laufen ins Nichts, auch andere Schiffe ringen im Sturm ums Kentern. Es ist ein erbitterter Kampf um Leben und Tod.


Sie kannte sich aus mit der Seefahrt und ihren Gefahren. Sie selbst war nie zur See gefahren, hatte aber ihren eigenen Vater an das Meer verloren, ebenso ihren Bruder und ihren Großvater. Die Seefahrt war in Island so gefährlich wie in anderen Ländern das Soldatenleben in Kriegszeiten.


Einar Kárason beschreibt in dieser Novelle die harte Arbeit der Fischer an Bord. Es ist ein Zusammenspiel der Mannschaft, bei dem sich einer auf den anderen verlassen muss. Ein gefährlicher Job, jedes Mal die Ungewissheit im Bauch, ob man zurückkehren wird. In diesem Sturm wird der Zusammenhalt auf eine harte Probe gestellt – jeder gibt sein Letztes, um das Leben von alllen zu retten; an Ausruhen und Schlaf ist kaum zu denken. Eine Polarfront schafft eisige Temperaturen und hohen Wellengang. Mit Wucht hauen sich die Brecher gegen die Mávur, die immer wieder in Schieflage gerät. Oder sie überfluten das Deck, fressen sich als Eisschicht fest, «massive, bizarr geformte Skulpturen wie aus Kristallglas». Das Deck, Ankerwinden, Kräne, Rettungsboote, das Eis sitzt auf allem fest, erhöht das Gewicht des 700 Tonnen schweren, vollgeladenen Schiffs, drückt es ins Meer. Die Männer hauen das Eis ab, mit allem, was sie haben, bis hin zu Küchengeräten. Sind sie auf einer Seite fertig, ist die andere Seite wieder zugeeist.


Lárus stand wieder am Steuer. Er konnte sich weder richtig wachhalten, noch schlafen ... alle Stimmen und Geräusche vermischten sich in seinem Kopf zu einem sonderbar schrillen Klang.


Die Geschichte wird von Lárus erzählt, der damals als junger Mann an Bord war. Alle anderen Figuren sind namenlos, werden nach ihrer Aufgabe betitelt: Kapitän, Bootsmann, Maschinist. Ein Sturm hat selten mehr als zwölf Stunden, doch dieser tobt bereits den dritten Tag. Verletzte, die körperlichen Erschöpfung der Männer ist sichtbar, die ihr Ölzeug unter Deck schon gar nicht mehr ablegen, mit den Fingern alles herrunterschaufeln, was der Koch auf den Tisch stellt. Die Männer essen bergeweise Deftiges, Heißes, um neue Energie zu tanken. Der Smutje arbeitet auf Hochtouren, kocht, was das Zeug hält; heißer Kaffee steht literweise bereit. Die Maschinisten tun ihr Bestes, pumpen den Diesel von einem Tank in den nächsten, um Gewichte zu verlagern; der Kapitän steht im Führerhaus, weicht keinen Millimeter vom Platz, ruft seine Befehle. Es kommen immer mehr Meldungen von Schiffen in Seenot; das ein oder andere sei gesunken. Einar Kárason beschreibt sehr eindrucksvoll das Leben an Bord und den Kampf an Bord. Die Männer, irgendwann am Limit ihrer Kräfte, müssten durchdrehen – doch dazu haben sie keine Zeit. Eis hacken und navigieren, in der Hoffnung dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Überflüssiges wird über Bord geschmissen – aber der Fang, ihr Lohn, steht niemals zur Debatte. Der Überlebenskampf eines Teams, das zusammenhält wie Pech und Schwefel.


Erfahrene Seeleute spürten sofort, wenn etwas nicht stimmte, an der Art, wie das Schiff sich bewegt oder, wenn sie die Stahlseile anfassen, die dann anders vibrieren, obwohl zwischen dem Schiff und dem Schleppnetz oft mehr als hundert Meter lagen.


Nature Writing in Hochform. Ich sitze hier auf dem Balkon, bzw. am Fenster und lese, schaue auf eine stürmische See hinaus. Ein Trupp kleiner Fischerboot fährt auf den Hafen zu. Unser Stürmchen bei zwölf Grad hat nichts mit diesem Sturm im Eismeer zu tun. Und doch ist dieser kleine Roman, diese Novelle, ein Stellvertreter für alle Fischer, für die Seefahrt, eine Huldigung für ihre harte Arbeit. Ein harter Job, Kameradschaft und Teamarbeit, immer den Tod vor Augen – eins sein mit der Natur, die Schonungslosigkeit der Naturgewalten. Den Himmel beobachten, die Vögel, die Temperatur ... wo sind die besten Fischgründe, wie wird sich das Wetter entwickeln? Erfolg und Enttäuschung wechseln sich ab; und reich wird ein Fischer niemals werden. Authentisch und präzise, gefüllt mit Fachjargon (was nicht störend ist) für Wetter, Schiff und Ausrüstung, beschreibt Einar Kárason sehr spannend diese Fahrt. Mit beeindruckender Intensität widmet er sich seinen Figuren, die sich am Limit durch den Sturm kämpfen. Der Stoff beruht auf eine wahre Begebenheit, ein Unwetter, in dem mehrere Schiffe sanken, 200 Männer ihr Leben ließen. Ein Roman für Meeresfreunde und Fans vom Nature Writing.


Einar Kárason, geboren 1955, ist einer der wichtigsten Autoren der skandinavischen Gegenwart. Berühmt wurde er durch seine Trilogie »Die Teufelsinsel«, »Die Goldinsel« sowie »Das Gelobte Land«. Sein Roman »Sturmerprobt« stand auf der Shortlist des Nordischen sowie des Isländischen Literaturpreises. Für »Versöhnung und Groll« erhielt er den Isländischen Literaturpreis. Zuletzt erschien 2017 die imposante Isländer-Saga »Die Sturlungen«, an der der Autor über ein Jahrzehnt arbeitete, bei btb. Für seinen neuesten Roman »Sturmvögel« wurde er 2020 mit dem schwedischen Kulturhuset-Stadsteatern-Preis für internationale Literatur ausgezeichnet. Kárason lebt in Reykjavík.



Einar Kárason
Sturmvögel
Aus dem Isländischen übersetzt von Kristof Magnusson
Originaltitel: Stormfuglar, 2018
Roman, Novelle, Nature Writing, Isländische Literatur
Gebunden, 144 Seiten
btb Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Himbeereis am Fluss von Maria Parr

  Norwegen, in dem großen roten Haus auf einem Hügel wohnt Ida mit ihrer Familie. Und der fünfjährige Oskar behauptet, ein Monster würde im Kleiderschrank sitzen, erzählt uns die achtjährige Ida. Aber die ernähren sich bloß von Socken, beruhigt sie ihrem Bruder, der nicht glauben will, dass es keine Monster gibt. Wir begleiten die Geschwister ein Jahr lang, von Fluss-Safaris in der Frühlingssonne, ein verregneter Sommer, Einschulung, Hüttenbau und Halloween mit verlorenen Vampiren in der Herbstdunkelheit. Die elf Geschichten sind humorvoll, authentisch und es wird niemals langweilig. Witzig, spritzig, empathisch wird hier Kinderalltag, Familienalltag beschrieben. Empfehlung für das Kinderbuch ab 7 Jahren! Weiter zur Rezension:    Himbeereis am Fluss von Maria Parr

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

Rezension - Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

  Seit der kleine Bruder auf der Welt ist, kümmern sich die Eltern nur noch um ihn. Dabei sieht Daichi doch aus wie ein Äffchen und kann nichts weiter als schlafen, schreien und in die Windel machen. Der Schwester reicht es. Sie packt einen kleinen Rucksack und sagt Mama, dass sie geht, um sich eine neue Familie zu suchen. Mama sagt jaja und Tschüß – und im Hinausgehen, das Mädchen möge nicht vergessen zum Abendessen zurück zu sein. Ein Pappkarton wird beschriftet: «Kind zu verschenken», und sie setzt sich am Straßenrand hinein und wartet … Wundervolles Bilderbuch ab 6 Jahren über die Gefühle zu sprechen, wenn vom Thron des Einzelkinds gestoßen wird. Weiter zur Rezension:    Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

Rezension - Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

  Ein Bilderbuch, in das man sich sofort beim ersten Durchblättern verliebt, ohne den Text gelesen zu haben. Und das liegt an den eindrucksvollen Illustrationen von Anita Kreituses. Es war einmal ein Junge, klug, klein und zierlich, der jüngste Sohn einer armen Bauernfamilie. Ständig malte er Katzen. Seine Eltern gaben ihn als Altardiener in den Tempel zur Ausbildung, weil sie meinten, der Junge sei für die schwere Hofarbeit nicht geeignet. Er war aufmerksam und fleißig, und er malte viel, aber immer nur Katzen und das überall. Dem Priester ging er damit auf die Nerven und er schickte ihn fort. Ein Kinderbuch, das jeden Katzen- und jeden Märchenfan begeistern wird. Japanische Kultur, japanischer Mythos – ein gelungenes Bilderbuch für die Abteilung Lieblingsbuch.  Weiter zur Rezension:    Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

Rezension - Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

  Wo sie uns im Alltag begegnet und wie sie funktioniert Was ist eigentlich künstliche Intelligenz? Sie ist ständig um uns herum, ohne, dass wir sie bemerken. Morgens weckt und der Wecker, den wir gestellt hatten, die programmierte Heizung ist bereits hochgewärmt, auf dem Smartphone sind E-Mail, Whatsapp usw. eingegangen, wir spielen unsere Playlist, während die Zahnputzapp das Zähneputzen begleitet und die Rollladen automatisch hochfahren. Das Smartphone erinnert, an die Hausaufgaben, die einzupacken sind usw. Big Data, Deep Learning, KI, Roboter, Chat, Halo-Effekt, AI, Chatbot, Sprachassistenz, Maschinelles Lernen, Computerprogramme, Neuronale Netze, Datenschutz, Programmieren, Internet verständlich für Kinder ab 8 Jahren erklärt, mit allen Vorteilen und Tücken. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

Rezension - Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

  Saisonal kochen das ganze Jahr. 100 Rezepte, über 300 Varianten Gemüse satt - das ganze Jahr, möglichst regional! Mit über 100 alltagstauglichen Gemüserezepten und unzähligen Tausch-Optionen begeistert dieses Kochbuch nicht nur Gemüsekisten-Fans. Die Kapitel sind nach Monaten aufgeteilt, die Saisongemüse aufgezählt. Ob knusprige Rösti aus Kartoffeln und schwarzem Rettich, gebratener Rhabarber mit Ziegenkäse oder Wirsing-Pasta mit Nussbröseln. Stefanie Hiekmann zeigt, wie man das Beste aus seiner Gemüsekiste herausholt, alles verwertet und saisonale Schätze haltbar macht. Einfach, nachhaltig, gesund und lecker! Die Rezepte sind einfach, also für Anfänger optimal, für den versierten Koch voller Anregungen. Absolute Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada