Rezension
von Sabine Ibing
Stummes Echo
von Susan Hill
Der erste Satz: May Prime hatte den ganzen Nachmittag in dem Korbstuhl neben dem Bett ihrer Mutter gesessen, bis sie um sieben Uhr plötzlich aufsprang, aus dem Haus lief und in den bewölkten Himmel starrte, weil sie die Sterbende keine Sekunde länger ertragen konnte.
Eine Familiengeschichte, die um ein Buch kreist, um die Wahrheit, um Lügen, um Vergessen, um das Familiengedächtnis. Mit der Erinnerungsfähigkeit des Menschen ist es bekanntlich nicht weit her. Manches ist vergessen, anderes verklärt oder sogar umgedreht. Nichts ist so emotional wie die Kindheit. Aber können wir sicher sein, dass unser Gedächtnis nicht manipuliert wurde? Über schlimme Dinge redet man nicht, die guten Erlebnisse werden immer wieder erzählt, verbal gefestigt, wie auch Anekdoten, die Wahrheit wird möglicherweise manipulativ verdreht. Fotos stützen die Erinnerung, festigen sie im Gehirn. Vergisst man schlimme Ereignisse? Und warum besitzen nicht alle die gleichen Erinnerungen, beziehungsweise völlig konträre? Was macht es aus einer Familie, wenn einer das kollektive Familiengedächtnis zerhackt?
Sie lernte, wie anders andere lebten und miteinander redeten, dass Freunde unberechenbar und Freundschaften trügerisch sein konnten, und das ließ sich nur wettmachen, wenn man über innere Kraft verfügte.
Das Original heißt der Roman »The Beacon«, der Name eines Hofs im Norden von England. Einsamkeit und harte Landarbeit prägen die Familie. May stehen alle Türen offen: Sie erhält Stipendien, studiert ein Jahr lang in London, bekommt aber Heimweh und kehrt zurück zu den Eltern. Das Leben auf dem Hof ist ihr genug, sie kämpft seit ihrer Kindheit mit Panikattacken und Wahnvorstellungen, und sie ist das letzte der vier Kinder, das auf dem Beacon verbleibt. Der Vater verstirbt und lange Jahre nach ihm die Mutter. May informiert ihre Geschwister Berenice und Colin – nur nicht Frank. Denn da sind sich alle einig: Er gehört nicht mehr dazu. Dieses Buch war das letzte! Es hatte alles verändert!
Nachdem sie die ersten Sätze gelesen hatte, war sie beschämt und wütend, aber nicht sonderlich überrascht. Frank war immer ein Beobachter gewesen, einer, der hinter der Tür stand und lauschte, einer, der anderen kleine, gemeine Streiche spielte und dann grinste, der stille, lauernde Frank.
Eine Familiengeschichte, Rivalität unter Geschwistern, Eifersucht, das Losstrampeln von den Eltern, altbekannt – doch trotzdem entwickelt dieser Roman bereits nach einigen Seiten einen Sog, der bis zum Ende nicht mehr loslässt. Was ist die Wahrheit? Ist daran überhaupt jemand interessiert? »Stummes Echo« – Vergessen. Doch kann man vergessen, was geschehen ist? Fein beobachtet gibt Susan Hill einen Einblick ins Dorfleben von Nordengland. Die beiden Hauptprotagonisten May und Frank stehen im Focus, zwei völlig verschiedene Charaktere. May stand die Welt offen, doch sie hatte die Tür zugeschlagen. Frank musste gehen, um sich zu befreien, sich alles selbst erarbeiten und niemals wollte er auf den Beacon zurückkehren. Eine schöne Geschichte, eine Novelle, ruhig erzählt, in prägnanten Sätzen, spannend mit einem überraschenden Ende.
Susan Hill schreibt seit über 50 Jahren Romane und ist in ihrer Heimat Großbritannien eine Schriftstellergröße, bekannt für ihre geheimnisumwoben Kriminalromane und für ihre Schauergeschichten. Ihre Bücher haben diverse Auszeichnungen und Preise gewonnen, darunter das Whitbread, das John Llewellyn Rhys und das Somerset Maugham; viele ihrer Romane wurden für den Booker nominiert. Anlässlich der Queen’s Birthday Honours erhielt Susan Hill 2012 die Ernennung zum Commander of the British Empire (CBE).
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