Rezension
von Sabine Ibing
Snowflake
von Louise Nealon
Mein Onkel Billy lebt in einem Wohnwagen auf dem Feld hinter unserem Haus. Als ich zum ersten Mal einen Wohnwagen auf der Straße sah, dachte ich, jemand – ein anderes Kind – hätte ihn entführt. Erst da erfuhr ich, dass Wohnwagen eigentlich dazu gedacht sind, bewegt zu werden.
Debbie White wächst auf einer irischen Milchfarm in der Nähe von Dublin auf. In der dörflichen Abgeschiedenheit ist Onkel Billy ihr Halt, der in einem Wohnwagen vor dem Haus lebt. Mit ihm zusammen betrachtet sie nachts den Sternenhimmel und lässt sich Geschichten aus der griechischen Mythologie erzählen. Mutter Maeve verlässt selten das Haus, ist damit beschäftigt, ihre Träume aufzuschreiben. «Mam setzt selten einen Fuß vor die Tür, sie geht nur zur Messe, zum Supermarkt und zum Sozialamt. Billy achtet darauf, dass sie ihr Arbeitslosengeld jede Woche abholt. Er nennt es ihr Kunststipendium.» Bei ihr wird eine bipolare Störung diagnostiziert. Debbie hat es geschafft, sie hat einen Studienplatz erhalten. Der erste Tag in Dublin wird für Debbie ein komplettes Desaster und sie beschließt sofort, ihr Literaturstudium am Trinity College hinzuschmeißen. Bill überredet sie, nicht gleich aufzugeben.
Die Therapeutin fragt nach meiner Familie. Ich erwähne die Dauerbeziehung nicht, die meine Mutter mit ihrer psychischen Erkrankung führt, weil ich nicht glaube, dass es relevant für die 2,2 ist, wegen der ich mich für diese Therapiesitzung angemeldet habe. ...
Dabei gibt es unter Studierenden eine Epidemie der Depressionen. Depressionen sind die 2,1 der psychischen Erkrankungen, und nicht mal die traut sie mir zu.
Ein einfaches Mädchen vom Land mit Dialekt inmitten von elitären Großstadtkindern – Debbie fühlt sich fehl am Platz. Doch die selbstbewussteren Xanthe nimmt sie an die Hand, gibt ihr die Möglichkeit, in ihrer Wohnung auf dem Sofa zu schlafen, damit Debbie nicht jeden Tag pendeln muss. Eine Coming-of-Age-Geschichte mit irischem Humor. Die Schule fiel Debbie leicht, doch im Studium muss sie sich anstrengen und nicht jedes Thema erschließt sich ihr sofort. Sie ist das Landei, über das man schmunzelt. Mit der privilegierten Xanthe an ihrer Seite gestaltet sich das Leben einfacher. Schuldgefühle an alles Ecken. Onkel Billy zahlt ihre Studiengebühren und ihren Unterhalt. Sie darf ihn nicht enttäuschen.
Ich lasse die Tränen erst zu, als ich unter der Dusche stehe und mir die Milch aus den Haaren wasche. Es ist eine Erleichterung, ein Trost, wenn ich meinen Körper vor dem Einschlafen berühre, um sicherzugehen, dass ich noch da bin, noch ich bin, noch am Leben bin.
Die gesamte Geschichte ist die einer Depression. Keine zwei Schneeflocken sind gleich. So äußert sich auch jede Depression auf andere Weise. Der Pub ist der Dreh- und Angelpunkt der Dorfgemeinschaft – wer nicht trinkt, gehört nicht dazu. Alkoholismus, ein weiteres Problem der Protagonist:innen: dass «Trinken wie Urlaub von meinem Kopf ist», lässt uns Debbie wissen. Manche peinliche Situation in ihrem Leben hat sie dem Rausch zu verdanken. Sie alle saufen, die Familie, das gesamte Dorf, selbst der Priester ist betrunken, als er auf einer Beerdigung die Trauerrede hält. Debbie fühlt sich auf dem Campus nicht wohl. Auch nach einiger Zeit sagt sie: «Ich glaube, ich werde mich nie wirklich als Studentin fühlen. Wenn ich jetzt da wäre, würde ich mich in der Bibliothek verkriechen, bis alles vorbei wäre.» Ihr fehlt das Gefühl für andere Menschen, für Situationen – sie kennt nur die Angst. Depression und Alkohol wechseln sich ab, fahren nebenher mit den Protagonist:innen Schlitten. Mutter Maeve stürmt auf den totalen Zusammenbruch zu, Onkel Billy passt auf sie auf. Doch auch er hat sein Päckchen gut versteckt in seinem Inneren – das auch herauswill. Denn er bezahlt eine vermeintliche Schuld ab, indem er Debbies Studium finanziert ... Aber auch Debbie und selbst die starke Xanthe tragen das schwarze Loch in sich. Sie stützen sich gegenseitig. Debbie, die trotz aller Probleme in der Familie eine stabile Stütze in ihr erhält – Zuwendung. Xanthe dagegen, bekommt vollste finanzielle Unterstützung, doch als Familie kann man die geschiedenen, abwesenden Eltern nicht bezeichnen.
Du weißt das alles echt nicht zu schätzen. Uni geschenkt. Auto geschenkt. Fahrstunden geschenkt. Wach endlich auf, verdammte Sch...
Tragische Figuren, voller Ängste und Schuldgefühle, voller Geheimnisse. Debbie steht wacklig auf einem Bein – die gesamte Geschichte hindurch. Ziellos. Sie studiert Anglistik, doch das Studium macht ihr keinen Spaß. Auf dem Campus fühlt sie sich nicht wohl zwischen den Hipsters. Auch ihre Familie ist ein wackliges Gebilde. Eine vielschichtige Geschichte, mit feinen Charakteren, die durch herrlichen Humor in ihrer Tragik dahingleitet. Trotz allem, lesenswert ja, doch so richtig gepackt, hat mich die Story bis zum Schluss nicht.
Louise Nealon, geboren 1991, wuchs auf einer Farm in der Grafschaft Kildare, Irland, auf. Sie studierte Englische Literatur am Trinity College in Dublin und Kreatives Schreiben an der Queen’s University Belfast. 2017 gewann sie den Seán Ó Faoláin International Short Story-Wettbewerb und wurde mit dem Francis Ledwidge Creative Writing Award ausgezeichnet. Snowflake ist ihr erster Roman.

Snowflake
Originaltitel: Snowflake
Aus dem Englischen übersetzt von Anna-Nina Kroll
Zeitgenössische Literatur, Irische Literatur
Hardcover, 352 Seiten
Mare Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur

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