Rezension
von Sabine Ibing
Schlichte Wut
von Davide Longo
Der Anfang:
Arcadipane schiebt den Dienstausweis und eine Zwanzig- Cent-Münze beiseite und ertastet endlich das letzte der Lakritzbonbons, die er am Tag zuvor bei Elsa gekauft hat. Behutsam zieht er es heraus, streift die Flusen vom Grund der Tasche ab, steckt es sich in den Mund und wartet auf den Moment, in dem die Zuckerkristalle an der Oberfläche zergehen und das Lakritz mit Orangenöl Wirklichkeit wird.
Ein literarischer Krimi aus dem Piemont. Ein Jugendlicher in Verkleidung soll einer Frau auf dem Bahnsteig der U-Bahn grundlos an den Kopf getreten haben – mit der anfahrenden U-Bahn verschwunden. In dem Kostüm ist er unverwechselbar: Zeugen, eine Kamera. Die Frau liegt im Coma, verstirbt später. Commissario Arcadipane ist noch nicht von der Schuld des Jungen überzeugt, denn der behauptet steif und fest, er sei es nicht gewesen; die Frau stand dort unberührt, als er in Bahn einstieg. Es dauert ein wenig, denn alle Fakten sprechen gegen den jungen Mann, bis die beiden Commissari einem Online-Spiel auf die Spur kommen, bei dem Menschen dazu gebracht werden, Leute zu töten, um die Taten Unschuldigen in die Schuhe zu schieben. Wer steckt dahinter, wer ist der Organisator?
Ein Mix aus Krimi und dem Sound von Einsamkeit
Arcadipane betrachtet den Mann, der seit zwanzig Jahren sein Vize ist: immer im Hemd, immer mit Scheitel, immer Piemontese, immer pünktlich, nie krankgeschrieben, immer anständig, immer altmodisch, immer nervig, immer, immer, was würde ich machen ohne ihn.
Davide Longo hat nicht nur einen eigenwilligen Schreibstil, in den man sich erstmal einlesen muss, er bringt auch eine Menge skurrile Typen aufs Papier. Die Ermittlung ist eine Sache – wir dringen auch tief in die einzelnen Charaktere ein. Arcadipane, begleitet von seinem dreibeinigen Hund, leidet unter seiner Einsamkeit, seiner Midlife-Crisis; hat immer eine Menge Sucai, süße Lakritzbonbons, in der Tasche. Seine Frau hatte sich ein paar Jahre zuvor von ihm getrennt, aber noch immer bringt er den Kindesunterhalt für die studierenden Kinder direkt bei ihr vorbei, um einmal im Monat die alte Wohnung betreten zu können. Sie sind noch verheiratet, Arcadipane hofft insgeheim auf Versöhnung, obwohl er weiß, dass es zwecklos ist – denn sie hat längst fest einen anderen. Seine Kinder sind ihm fremd geworden, der Bezug zu ihnen ist ihm abhandengekommen. Er wohnt zur Untermiete bei einer alten Signora, die ebenfalls sehr einsam ist und ein strenges Regiment führt. Pinkeln nur im Sitzen! – Und sie hört alles! Seine merkwürdige Therapeutin verordnet ihm, sich in einem Datingportal anzumelden, doch an jeder der Frauen hat er etwas auszusetzen. Lebenskrisen bei fast allen Beteiligten. Irgendwann tritt der ehemalige Kollege Normandia ins Team ein, der dieser Internetgruppe bereits länger auf der Spur ist, niemand ihm glaubt. Und er erklärt: «Weil das, was offensichtlich ist, nicht immer wahr ist, und was wahr ist, nicht immer offensichtlich.» Normandia spricht meist in biblischen Gleichnissen, die es den anderen nicht leicht machen, mit ihm zu kommunizieren.
Ein perfides Online-Spiel
Hausbewohner, Familie, Verdächtige, empathisch mit viel schwarzem Humor leuchtet Davide Longo seine Charaktere aus. Atmosphärisch in der Poesie der Regentage der Stadt Turin, die Melancholie ihrer Bewohner:innen aufblätternd, Lebensentwürfe – Generationen, die sich gegenseitig manchmal schwer verstehen. Das perfide Online-Spiel wird bald immer deutlicher, Mitglieder aufgedeckt, doch den Betreibern auf die Schliche zu kommen, scheint schier unmöglich. Ein literarischer Kriminalroman mit poetischem Sound, Gesellschaftskritik, schwarzem Humor, skurrilen Typen und einem sehr ungewöhnlichen Fall. Empfehlung!
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour für das beste Debüt und dem Premio Via Po. Sein Roman «Der aufrechte Mann» wurde von der Presse enthusiastisch aufgenommen, «Der Steingänger» sogar verfilmt. «Der Fall Bramard» begründet eine Krimireihe aus dem Piemont, die mit «Die jungen Bestien» fortgesetzt wird.
Schlichte Wut
Originaltitel: Una rabbia semplice
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Bramard und Arcadipane ermitteln, Band 3
Krimi, Literarischer Krimi, Kriminalliteratur, Kriminalroman, Italienische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten
Rowohlt Verlag, 2022
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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