Direkt zum Hauptbereich

Rezitativ von Toni Morrison Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Rezitativ 


von Toni Morrison


Der Anfang: 

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht. Wenn man erzählt, man war im Kinderheim, wollen einen alle gleich in den Arm nehmen, dabei war es gar nicht so schlimm.


Die Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, erstmals 1983 erschienen und nie zuvor ins Deutsche übersetzt, ist die Quintessenz ihres Schaffens. Die kurze Novelle handelt von zwei Mädchen, die sich im Kinderheim kennenlernen – die eine ist schwarz, die andere weiß. Nur so viel verrät die Autorin dazu, denn sie spielt mit unserer Wahrnehmung. Twyla und Roberta, wer ist welche? Welcher Name passt besser zur Schwarzen? Die eine Mutter tanzt die ganze Nacht, die andere ist krank… Im Kopf entwickelt sich fast etwas wie eine Exceltabelle, die sortiert – Vorurteile sortiert: x eher = weiß und y eher = schwarz. Schnell kommt man aber wieder davon ab, weil das keinen Sinn ergibt. Doch man fiebert weiter nach einem Hinweis – den uns Tony Morrison natürlich nicht gibt.


Es gibt kein vertrautes Miteinander mehr

Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Sie werden beste Freundinnen, halten zusammen, trösten sich gegenseitig. Sie sind die einzigen Kinder im Heim, deren Mütter noch leben, und darum werden sie von den anderen, den Waisen, gemieden. Im späteren Leben verlieren sie sich aus den Augen. Aber ihr Leben kreuzt sich immer wieder: in einem Diner, im Supermarkt und bei einer Demonstration um die Schule ihrer Kinder. Als Erwachsene stehen sie nun auf verschiedenen Seiten, selbst bei der Schuldemo. Es gibt kein vertrautes Miteinander mehr, nur noch Gegensätze. Und doch fühlen sich die beiden Frauen einander tief verbunden.


Wer ist nun schwarz und wer weiß? 


Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen ganz anderer Hautfarbe! Und Mary, so heißt meine Mutter, hatte ja recht. Von Zeit zu Zeit hörte sie nämlich gerade so lang mit dem Tanzen auf, um mir was Wichtiges zu erklären, und unter anderem hat sie mir erklärt, dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta. Also, sie roch wirklich komisch.


Eine Mädchenfreundschaft und die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf die Beziehungen, die unser Leben prägen. Eine kluge Erzählung! Die Literaturnobelpreisträgerin hat in dieser Geschichte alle rassifizierenden Codes herausgelassen, was uns Leser unweigerlich zu Detektiven machen lässt. Sie sogar so gesetzt, dass wir ihr auf den Leim gehen. Was sind denn diese Codes? Welche bestimmten Personenmerkmale würdest denn du als Kennzeichen für eine ethnische Zugehörigkeit identifizieren? Der Lesende steckt mitten im Experiment. Ein Konflikt steht zwischen den beiden erwachsenen Frauen: Maggie, die stumme Haushaltshilfe wurde von allen Heimkindern gemobbt. War sie weiß, oder war sie schwarz? Und wer hat sie geschubst? Zwei Versionen der Geschichte und beide Frauen bestehen auf ihre Perspektive. Es gibt die kleine Szene am Anfang – da denkst du, ha, jetzt hast du es, das mit den Haaren. Doch ein paar Seiten später wird der Spieß umgedreht. Hier wird über das Essen gesprochen, was beide mögen. Robertas Mutter ist sehr groß, mit einem Kreuz um den Hals, stets die Bibel in der Hand, die Tanzende Mutter von Twyla trägt eine Felljacke und eine grüne Hose, in der ihr Hintern vorsteht. Wer ist nun schwarz und wer weiß? Die erwachsenen Frauen treffen sich wieder. Twyla arbeitet im Diner als Kellnerin, ihr Mann ist Feuerwehrmann. Roberta hat einen IBM-Manager geheiratet, fährt eine Limousine, den Haushalt führt eine Angestellte. Andererseits ist sie die mit den wilden Haaren, die heute geglättet sind, die in einem Viertel der schwarzen Mittelschicht wohnt. 


Eine kurze Lektüre, die enorme Kraft hat


Das, was an Twyla und Roberta wesenhaft schwarz oder weiß ist, bringen wir, glaube ich, selbst in «Rezitativ» ein, im Rahmen eines Zeichensystems, an dem sich bereits viel zu viele Menschen über viele hundert Jahre hinweg gemeinschaftlich abgearbeitet haben. Angefangen hat es mit dem rassistischen, kapitalistischen System, das wir heute Versklavung nennen …


Der Name, das Wohnviertel, der Beruf, die Musik, die jemand hört, seine Kleidung, der Lesende führt automatisch ein racial profiling durch, weil er neugierig ist. Und genau das erschreckt uns im Nachhinein. Im Nachwort erklärt Zadie Smith genau diese Strukturen, die dazu führen.  Es ist ein langes Nachwort, das ebenfalls sehr lesenswert ist. Eine kurze Lektüre, die enorme Kraft hat und zum Nachdenken bringt. Aber genau das macht Toni Morrison aus! Empfehlung!


Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics› Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.



Toni Morrison
Rezitativ
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Tanja Handels
Nachwort von Zadie Smith
Erzählung, Novelle, Vorurteile, racial profiling, amerikanische Literatur
Rowohlt Verlag, 2023


Weitere rezensierte Romane von Toni Morrison:


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Yrsa von Alexandra Bröhm

  Journey of Fate (Yrsa. Eine Wikingerin 1)  Yrsa ist eine junge Wikingerin , die sich nach dem Tod der alleinerziehenden Mutter seit vier Jahren allein um ihrem Bruder Sjalfi kümmert. Als sie eines Tages von der Jagd nach Hause kommt, ist Sjalfi verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche und den gefährlichen Weg nach Haithabu . Denn es heißt, es würden Kinder entführt und versklavt. Unterwegs lernt sie Krieger kennen. Ihr Traum war immer schon, eine Kämpferin zu werden. Der Krieger Avidh hat es ihr besonders angetan. Ich würde den Roman ins Genre Young Adult einordnen. Wer softe Literatur, einen Liebesroman zur Entspannung mag, liegt hier richtig.  Weiter zur Rezension:    Yrsa von Alexandra Bröhm

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher