Direkt zum Hauptbereich

Nils geht von Gabi Kreslehner - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Nils geht 


von Gabi Kreslehner


Der Anfang: … Nils schreckte hoch.
Nein, nicht weiter, so viel war sicher.
Man konnte nicht davonlaufen.
Vor fast nichts …

Nils ist in diesem Ort aufgewachsen, dann hat er ein Jahr lang in England gewohnt, ist zurück und kommt in Saras Klasse. Die Mütter sind befreundet, sie kennt Nils seit Geburt. Und nun ist er hier, sie soll auf ihn achten, dabei mag sie Nils gar nicht so sehr gern – aber irgendwie tut er ihr leid, sie fühlt sich pflichtbewusst verantwortlich. Doch sie hat nichts unternommen. Sie konnte nicht. Keiner hat etwas gemacht. Das erfahren wir in der ersten Vernehmung von Sara, mit der das Buch beginnt. Wer die Vernehmung durchführt, erfährt der Leser nicht. Ist es die Polizei, der Direktor der Schule? Der Schüler Jo Bellman tritt ziemlich arrogant in der Befragung auf, er hat nichts zu sagen.

Alle schauen weg

Erster Teil: Erste Befragung // Sara Auster
Montag, neunzehnter Juni, Beginn: vierzehn Uhr dreißig
Hallo Sara
Sara reagiert nicht.
Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?
Sara zuckt mit den Schultern. …
Gut, Sara, dann fangen wir jetzt an. Magst du mir erzählen, was passiert ist?
Pause. Dann: Sara schüttelt den Kopf und steht auf.
Ich gehe jetzt.
Sie geht.

Nils ist verschwunden, nicht aufzufinden, nirgends. Nils ist ziemlich kein, schüchtern, eher schwächlich, trägt keine coolen Klamotten und er ist ein guter Schüler. Er ist ein Außenseiter, den so richtig niemand mag. Jo, Rasmus und Fadi sind die Kings der Klasse, latent aggressiv, großmäulig, vor ihnen hat jeder Angst – jeder bewundert sie. Nils ist ihr Opfer. Gleich morgens nehmen sie sich den Jungen vor, nennen ihn immer nur Detlef, schubsen und knuffen ihn, schmeißen seine Tasche in den Dreck, erniedrigen ihn. Alle anderen schauen weg. Mila gehört zur Gruppe um Jo, jeden Tag sitzen sie bei ihm im großen Garten herum, feiern Partys am Pool. Mila «gehört» Jo, sein Mädchen, so meint er. Auch Mila mischt sich nicht ein, wenn die Jungs Nils traktieren, selbst die Lehrer schauen weg. Als die Prüfungen anstehen, hat der Klassenlehrer die Idee, Nils könne mit Mila lernen, sie ist nicht so so gut in Mathe.

Die Luft knistert wie ein Holzscheit im Feuer

An dieser Stelle kippt die Story. Klar, auch Nils ist wie jeder Junge in Mia verliebt, macht sich aber keine Chancen aus. Doch ganz langsam entwickelt sich so etwas wie eine lose Freundschaft zwischen ihm und Mila. Gleichzeitig rückt sie weiter von dem großmäuligen Jo ab, was den wiederum rasend macht. Was will die schöne Mila mit Detlef, dem Knirps? Nils wächst merklich mit der Freundschaft. Die Jungenbande nimmt Nils nun richtig in die Zange und plant eine fette Abreibung, die per Video ins Netz gestellt werden soll. Sara sieht das kommen, alle sehen es kommen, niemand tut etwas! Rasmus erpresst Sara – er will sie küssen, begrabbeln – lässt sie ihn ran, bleibt Nils verschont. Sara hat Angst vor Rasmus, ekelt sich vor ihm. Mila wird von Jo bedrängt, auch sie mag sich nicht betatschen lassen – doch Mila weht sich knallhart, ein lautes Nein, wegschubsen, Ohrfeigen. Sie wird dafür büßen müssen. Nils sieht es kommen, ahnt, dass die Jungs etwas mit ihm vorhaben – die Luft knistert wie ein Holzscheit im Feuer. Und Nils lässt die Schmach über sich ergehen, behauptet, es wäre eine Mutprobe von ihm gewesen. Doch dann brennt bei ihm die Sicherung durch.

Anerkennung durch Aggression?

Hier geht es um das Thema Mobbing – um das kollektive Wegschauen. Drei Jungs machen Ärger, stürzen sich auf das schwächste Glied in der Kette und alle anderen schauen zu. Kinder benötigen Anerkennung und Zugehörigkeit – Nils erhält nichts davon in der Klasse – lediglich der Lehrer lobt ihn für gute Leistung, was letztendlich auch noch kontraproduktiv ist. Einen wertschätzenden Umgang miteinander zu führen, Gewaltprävention in den Schulregeln einzubinden, ist meiner Meinung nach unter anderem die Aufgabe von Lehrern. Diese hier sehen allesamt weg – die junge Lehrkraft, die sich einmischen will, bekommt «Klassenkeile» seitens des Kollegiums: Wir wollen viele Anmeldungen im nächsten Jahr, aber wenn wir ein Fass aufmachen, dann gehen die Schüler woanders hin, und Sie sind die Erste, die ihren Job verliert, sagt ihr der Direktor. Jos Truppe erhält Anerkennung – jeder wäre gern dabei. Anerkennung durch Aggression – Prestige durch das Gefühl von Stärke und Macht. Urinstinkte – der Starke soll der Häuptling sein.Alle schauen weg, jeder einzelne meint, er könne nichts tun, hat selbst Angst vor Repressalien, Angst, selbst das nächste Opfer zu sein. Sind nicht alle, die wegschauen, sich nicht einmischen, genauso schuld wie die Aggressoren?

Mobbing ein massiver Angriff auf den Selbstwert einer Person

In Gruppen mit guten Beziehungen kommt es weniger zu Mobbing und Gewaltvorfällen. Doch ist das in der Schule möglich? Und wie können wir Kinder und Jugendliche schützen? Mit harten Strafen erzeugen wir selbst Gewalt – was nicht immer völlig falsch ist. Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit oder Handlungskompetenz in Konfliktsituationen können wir als Pädagogen stärken – die Kinder stärken, die ein typisches Opfer darstellen, die sensibilisieren und stärken, die normalerweise wegschauen. Mobbing ist ein Tabuthema. Gabi Kreslehner hat es angesprochen. Mobbing ein massiver Angriff auf den Selbstwert einer Person, denn die fühlt sich inder Regel in irgendeiner Weise selbst mitschuldig. Sara sagt, Nils soll sich das nicht gefallen lassen, Mila sagt es. Nils selbst meint, er sei eben klein, uncool und kein Schläger, was soll er schon tun – selbst Schuld, er könnte sich ja verändern. Jemanden zu sagen, er soll sich zur Wehr setzen, ohne ihm beizustehen, bedeutet, ihn allein zu lassen. Sara wiederholt laufend: Sie konnte nichts machen – eine wiederholende Selbstentschuldigung. Die Autorin legt Mechanismen offen, denen man als Leser sogleich widersprechen mag. Das Buch eignet sich insofern gut, mit einer Klasse, einer Gruppe, über Mobbing zu sprechen. Nils ist eine Romanfigur – wie könnte man Nils helfen, was haben die anderen falsch gemacht? Wie stellt man aggressive Typen bloß? Muss man sie bewundern? Verwundert hat mich allerdings das Verhalten der Lehrer, der Charakter des merkwürdige Mathelehrers, der aus einem anderen Jahrhundert stammen könnte. Ein wenig klischeehaft sind die reichen, arroganten Jungs, um die sich die Eltern nicht kümmern, die immer für Bösewichte herhalten müssen, der Tunese Fad, der hier als Migrant endlich Aufmerksamkeit erhält. Insgesamt ein guter Roman zu einem Tabu-Thema.

Interessanter Aufbau 

Sprachlich ist das Buch interessant aufgebaut. Es gibt drei Tage lang Befragungen und Antworten, Sara berichtet am meisten. Dazwischen wird die Geschichte in der Rückblende erzählt. Distanz und Nähe wechseln in der Einstellung. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, die Dichte der Ereignisse machen die Geschichte spannend. Der Tyrolia Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 13 Jahren, dem schieße ich mich an.


Gabi Kreslehner, geb. 1965, arbeitet als Autorin, Lehrerin und Theaterpädagogin. Sie schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Ihr Jugendroman «Charlottes Traum» wurde unter dem Titel «Beautiful Girl» (2015) verfilmt.


Gabi Kreslehner 
Nils geht
Jugendroman, Mobbing
144 Seiten
Tyrolia Verlag, 2020
Altersempfehlung: ab 13 Jahren





Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! 
Kinder- und Jugendliteratur


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck