Rezension
von Sabine Ibing
Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit
von Stephan Abarbanell
‹Wir werden auf dem Land arbeiten und für alle jungen Leute ein Beispiel sein.›‹Ich will aber kein Beispiel sein›, sagte sie. In nahezu jedes Land hätte man sie schicken können, solange es über fließend Wasser, Heizungen, Kühlschränke und eine vernunftgesteuerte Regierung verfügte (also eigentlich keines). Aber nicht in die Wüste. Und nicht in einen Kibbuz am Ende der Welt, wo es im Winter kühl und im Sommer zu heiß war, wo sich Schakal und Geier Gute Nacht sagten und ihre Kinder und Freunde fern waren.
Sie wollte einen Mann heiraten und bekam einen Staat. Paula Munweis wurde in Minsk geboren, von ihren Eltern ausgesucht unter ihren Kindern, als Zwölfjährige zu Verwandten nach New York zu gehen, um die Schule zu besuchen, Medizin zu studieren. Die Zeiten in Weissrussland waren schlecht, insbesondere für Juden. Die Eltern hofften, sie würde Erfolg haben und Stück für Stück die Familie nachholen. Der Zusammenbruch ging schneller als gedacht, die russischen Pogrome und der Tod des Vaters ließen die finanzielle Unterstützung von zu Hause stoppen – der Traum vom Studium geplatzt. Die Krankenschwester Penina (nun Paula) und überzeugte Anarchistin trifft auf David Ben-Gurion und heiratet ihn. Der träumt vom Staat Israel und zieht, als Paule schwanger ist, als Soldat der jüdischen Legion nach Palästina. Seine Tochter sieht er das erste Mal, als diese bereits drei Jahre alt ist. David Ben-Gurion schafft es, diesen Staat mitten der Wüste zu gründen. An ihrem Lebensabend zieht Paula widerstrebend mit ihm in einen Kibbuz in der Wüste Negev; eine anstrengende Sache, hier wieder alles neu aufzubauen. Mai 1966: Am kommenden Tag erwartet Ben-Gurion einen späten Freund, den vor Kurzem aus dem Amt geschiedenen Konrad Adenauer. Und wieder einmal ist es an Paula, diesen Besuch auszurichten und zu gestalten. Sie hasst diesen Deutschen, weil er ein Deutscher ist, versteht nicht, was ihr Mann an einem Deutschen gut finden kann.
Israel hatte Kriege geführt, 1948, 1956, und würde weitere führen müssen, jetzt war 1966, wer wusste, wann der nächste ins Haus stand. Vielleicht bald. Eigentlich führte es ständig einen großen und kleinen, niemals endenden Krieg mit all seinen bis an die Zähne bewaffneten Nachbarn.
Armut, Kriege, Mutterschaft und immer wieder Einsamkeit: Dieser Roman erzählt die Geschichte einer starken, mutigen Frau, der das Leben viele Kompromisse abverlangt und sie zur Frau des Staatsgründers eines Landes gemacht hat, an das sie nicht glaubte. Am Ende ihres Lebens bricht sie noch einmal auf, um sich selbst zu finden. Die Rahmenhandlung bezieht sich auf die Vorbereitung zum Besuch von Adenauer, Gespräche mit einer neuen jungen Frau im Kibuz, Shoshana, die aus New York anreiste, ein Ort, nach dem sich Paula sehnt. Weite Teile sind introspektiv, Erinnerungen an ihre Familie, die Zeit in New York, verschiedene Wohnungen in Israel, Selbstgespräche, Reflexionen und Gespräche mit Shoshana. Und da ist Ben-Gurion, mit dem sie hadert, der ihr so viel zugemutet hat, den sie aber nicht allein lassen kann. Der Mann, den sie liebt, der allein verwahrlosen würde, weil seine Nase ständig in Büchern steckt; soweit er nicht gerade Politik macht.
‹Ben-Gurion liest schon für mindestens drei›, schnaubte sie dann heraus, um hinter diese Angelegenheit einen Punkt zu setzen. Irgendwann allerdings liest dieser Mann nur noch, hatte sie in den vergangenen Monaten gedacht. ‹Ich wundere mich, dass du zwischendurch die Zeit gefunden hast, einen Staat zu gründen. Wenn auch nur einen kleinen›, hatte sie einmal zu ihm gesagt.‹Für einen großen fehlte mir die Zeit›, seine Antwort.‹Das sollen dann andere machen?›‹Für das, was wir brauchen, ist er groß genug.›
Ben-Gurion ist eine Nebenfigur, und es geht auch nicht um die Staatsgründung von Israel, noch politische Dinge. Paula schaut auf ihr Leben zurück, die Frau an der Seite eines großen Staatsmannes, der nie anwesend war, für den sie die Organisatorin von allem war, für den den sie auf so viel verzichtet hat – ihre Rolle als Mutter wird nicht erwähnt. Sie fragt sich, wer sie selbst ist. Der Roman ist gut, aber auch recht einseitig in der Innenansicht, denn ihre Kinder werden kaum erwähnt. Auch ihr Mann erhält wenig Raum, denn man sieht, dass diese beiden eine Einheit waren, zumindest sagt der Roman, ohne sie hätte Ben-Gurion das alles nicht geschafft. Somit ist Paula ein Teil von Israel. Aber sieht sie sich so? Mir fehlt genau dieser Teil in der Erzählung. Stephan Abarbanell wollte das Politische aussparen. Für mich funktioniert das nicht. Eine aktive Anarchistin, die an der Seite von ihrem Mann stand, eng verwoben mit seinen Aktivitäten. Die Kinder kommen gar nicht ins Spiel, auch nicht ihre Religiosität, nur einmal leuchtet etwas durch, als ihr Mann, der einen der Söhne, der in England studiert, besucht und eine Christin heiraten will. Eine Frau, die ihrem zionistischen Mann erklärt, dass sie vom Staate Israel nichts halte, dass sie keine jüdischen Gefühle in sich trägt, verweigert einer christlichen Frau die Hochzeit mit ihrem Sohn – und wenn, dann müsse sie konvertieren und einen jüdischen Namen annehmen.
‹Er kann die Hochzeit vergessen.›Ben-Gurion hatte geseufzt und gesagt: ‹Ich erkenne dich nicht wieder. Du sprichst wie diese Gralshüter vom Oberrabbinat, Was ist los mit dir? Aber ich werde sehen, was ich tun kann.›‹Du hast die ganze UNO plattgeredet, dass sie der Teilung des Landes und deinem Staat zustimmt. Dann wirst du wohl auch deinen Sohn zur Räson bringen können.›‹Das ist etwas anderes. Das ist nur Politik.›
Literarisch ist das Buch hervorragend, dicht und atmosphärisch geschrieben, gibt es Einsamkeit Paulas wieder, die karge Landschaft des Kibutz in der Wüste, die harte Landarbeit. Eine starke Frau, die an der Seite eines Mannes steht, ihn organisiert, der sich aber für eine Sache einsetzt, an die sie selbst nicht glaubt. Einer, der sie ständig betrügt, einer, mit dem sie hadert, von dem sie sich entfernt hat, oder er von ihr. Eine Frau, die gern ein Schaumbad nimmt, gern Radio hört, gern einen Fernseher hätte, die New York liebt, die Annehmlichkeiten des Lebens, Großstädte. Sie geht mit ihrem Mann in die verhasste Wüste ins Nichts, fern von Freunden und Kindern, in ein Leben, das sie hasst. Warum tut sie das? Weil ihr Mann ohne sie verlodern müsste? Aus Pflichtbewusstsein? Hier kommt der Autor der Protagonistin nicht nahe. Eine Frau, die viele einsame Stunden im Leben erlebte, angefangen, als sie allein nach Amerika reisen musste. Eine Frau, die mit den Ideen ihres Mannes hadert, ihm ihm selbst; aber zur vollen Stunde das Radio anstellt, um zu hören, was in Israel geschieht, um zu hören, welch dummes Zeug die Nachfolger ihres Mannes im Amt wieder angestellt haben. Eine Frau mit zerrissenem Herzen. Ein klasse Roman, den ich mir tiefschürfender wünschen würde bezüglich der Errichtung des Staates Israel und Ben-Gurion, denn sie ist ein Teil auch dieser Geschichte. Empfehlung!
... sie war nicht nur seine Frau, sondern Teil des Staates. Wenn es dem gut ging, musste es auch ihr gut gehen. So einfach dachte er. Und es ging diesem Staat ja nie wirklich gut, immer nur kämpfen, ringen, sich über Wasser halten.
David Ben-Gurion wurde 1886 als David Josef Grün in der Kleinstadt Płońsk im damaligen (Kongresspolen) Russischen Kaiserreich geboren. Er war ein Sohn eines Rechtsanwalts, der eine zionistische Organisation führte. Als Sozialist und Zionist wanderte er nach Palästina, Jaffa, aus, wurde Führer der jüdischen Arbeiterbewegung. In New York City lernte er 1915 Paula Munweis kennen. Sie heirateten 1917 und bekamen drei Kinder. Nachdem Großbritannien mit dem Ende des Ersten Weltkriegs vom besiegten Osmanischen Reich die Herrschaft über Palästina übernommen hatte, übersiedelte die Familie nach Jerusalem. Von 1931 bis in die 1950er lebten sie in Tel Aviv. 1953 bis 1954 bauten sie mit das Kibutz Sde Boker auf. 1970 kehrte das Ehepaar nach Sde Boker zurück. In dieser Zeit spielt das Buch. David Ben-Gurion verstarb 1973, Paula bereits 1968. Ben-Gurion vertrat das jüdische Establishment in Palästina und war als moderater Politiker bekannt. Er setzte sich für einen jüdischen Staat ein; Palästina war damals noch unter britischer Regierung. Er hat 1948 mit der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel geschafft, eine provisorische Regierung zu bilden und wurde in der Folge Israels erster Ministerpräsident. Und er stand für die Zwangsumsiedlung der Palästinenser: «Ich bin für Zwangsumsiedlung, darin sehe ich nichts Unmoralisches.» David Ben-Gurion vertrat darüber hinaus die Ansicht, es gebe kein palästinensisches Volk. Er war auch immer in Kämpfe (teilweise umstrittene) verwickelt, führte mehrfach den Staat an, oder war als Verteidigungsminister tätig; oder er wohnte mit der Familie in einem neuen Kibutz, das in harter Arbeit aus Wüste urbares Land entstehen ließ. David Ben-Gurion war umstritten mit seinen teilweise verqueren Ideen und hat sich zeitlebens mit einer Menge wichtiger Personen verworfen. Er war bekannt für seine außerehelichen Liebesbeziehungen; in Wien, London und New York hatte er feste Freundinnen; etwas, was hier angedeutet wird.
‹Es ist eigenartig›, sagte sie.‹Was ist eigenartig?›‹Die Einsamkeit hat als einzige Empfindung mehrere Farben. Ich habe sie immer wieder gezählt. Jetzt bin ich mir sicher: Es gibt sieben Farben der Einsamkeit.›Für mich gibt es nur Grau, wollte sie sagen. Aber im selben Moment wurde ihr klar, dass es nicht wahr gewesen wäre. Sie kannte die Hoffnung und die Sehnsucht und die Liebe, und sie war sich plötzlich vollkommen sicher, dass diese Empfindungen auch bei ihr verschiedene Farben hatten, vielleicht sogar mehrere, wie bei Shoshana. Sie musste nur etwas warten und Geduld beweisen. Sie hatte es so oft getan, warum nicht noch dieses eine Mal, wo sie doch jetzt wusste, dass es sich lohnte. Vielleicht würde auch das Schwarzgrau der Einsamkeit irgend wann in ein mildes Rot übergehen. Rot wie die Sehnsucht.
Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb. Sein Romandebüt, »Morgenland«, erschien 2015 bei Blessing, 2019 folgte »Das Licht jener Tage« und 2022 »10 Uhr 50, Grunewald«. Stephan Abarbanell lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Bettina Abarbanell, in Potsdam-Babelsberg.
Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit
Zeitgenössische Literatur, Historischer Roman, Israel, David Ben-Gurion, Paula Ben-Gurion
Hardcover, mit Schutzumschlag, 240 Seiten
Karl Blessing Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur

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Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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